: Patrick McGuinness
: Den Wölfen zum Fraß
: Verlag Freies Geistesleben
: 9783772544286
: 1
: CHF 22.30
:
: Gegenwartsliteratur (ab 1945)
: German
: 422
: Wasserzeichen
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB
Die Leiche einer jungen Frau wird am Flussufer gefunden und ein Nachbar, ein pensionierter Lehrer des Chapleton College, verhaftet. Der exzentrische Einzelgänger ist der perfekte Kandidat für eine Hetzjagd der Medien. In der Untersuchungshaft trifft Michael Wolphram auf zwei Polizisten: den umsichtigen Ander und dessen ?Gegenspieler? Gary. Ander ist besonders wachsam, denn der Mann auf der anderen Seite des Tisches ist jemand, den er kennt. Jemand, den er seit fast dreißig Jahren nicht mehr gesehen hat. Entschlossen, die Wahrheit herauszufinden, muss Ander sich auch seiner eigenen Geschichte stellen, die Jahrzehnte zurückliegt, aus seiner Zeit als Chapleton-Schüler. Mit dem Schwung eines klassischen Krimis erzählt ?Den Wölfen zum Fraß? von der mediengesättigten Gegenwart einerseits und einem tyrannischen, elitären englischen Schulsystem andererseits. Psychologisch scharfsinnig, erschütternd traurig und teilweise urkomisch.Patrick McGuinness, 1968 in Tunesien geboren, ist Schriftsteller (Lyrik und Romane) und Literaturwissenschaftler. Er ist Professor für Französisch und Vergleichende Literaturwissenschaften in Oxford. Als Sohn einer Belgierin und eines Engländers mit irischen Wurzeln wuchs Patrick McGuinness in Belgien, Venezuela, Iran, Rumänien, Frankreich und Großbritannien auf. 2004 erschien sein erster Gedichtband ?Canals of Mars?. 2007 folgte ?19th Century Blues? und 2010 ?Jilted City?. Außerdem hat er autobiografische und wissenschaftliche Abhandlungen verfasst. Sein erster Roman ?Die Abschaffung des Zufalls? (auf Deutsch bei Zsolnay) war 2011 Finalist beim Booker-Preis und erhielt den Prix du premier roman. Für ?Den Wölfen zum Fraß? wurde ihm 2020 der Encore Award zugesprochen für das beste zweite Buch. Patrick McGuinness lebt in Oxford und Wales.Ein Ort, an dem immer Jetzt ist 20. Dezember Große Vergangenheiten, kleine Vergangenheiten Der Fettberg Danny und Ander Gedenkstätten Vera Lynne Forester Danny und Ander Europäisches Kino Ein gebrochenes Herz Danny und Ander Noch mal Parktown Der Doc Putze den Tag Der Rektor Der Prozess Die Nation bei den Eiern gepackt Danny Ein Leserbrief Das Verhör Dating Fernsehen Drehwigkeit

Patrick McGuinness, 1968 in Tunesien geboren, ist Schriftsteller (Lyrik und Romane) und Literaturwissenschaftler. Er ist Professor für Französisch und Vergleichende Literaturwissenschaften in Oxford. Als Sohn einer Belgierin und eines Engländers mit irischen Wurzeln wuchs Patrick McGuinness in Belgien, Venezuela, Iran, Rumänien, Frankreich und Großbritannien auf. 2004 erschien sein erster Gedichtband ?Canals of Mars?. 2007 folgte ?19th Century Blues? und 2010 ?Jilted City?. Außerdem hat er autobiografische und wissenschaftliche Abhandlungen verfasst. Sein erster Roman ?Die Abschaffung des Zufalls? (auf Deutsch bei Zsolnay) war 2011 Finalist beim Booker-Preis und erhielt den Prix du premier roman. Für ?Den Wölfen zum Fraß? wurde ihm 2020 der Encore Award zugesprochen für das beste zweite Buch. Patrick McGuinness lebt in Oxford und Wales.

Ein Ort, an dem immer Jetzt ist


Unweit der Schule ist eine Brücke. Um zu den Sportplätzen oder auf die andere Seite der Mündung zu gelangen, müssen die Jungs sie überqueren. Das tun sie drei Mal pro Woche, bei Sonnenschein oder Regen. Es muss ziemlich nass sein, bevor der Nachmittagssport abgesagt wird – oder auch nur das unwichtigste Trainingsspiel. «Zeit fürcorpore fuckingsano», sagt Mr. McCloud, der kettenrauchende, nach Whiskyparfümierte Klassenlehrer, der die Jungs wie Kumpels aus dem Pub behandelt und über historische Figuren spricht, als hätte er sie persönlich gekannt. Er kann einem sagen, wie ihr Atem riecht und was ihnen zwischen den Zähnen hängt; wie sie gehen, wie ihre Fingernägel aussehen.

Die Jungs mögen ihn, obwohl er aufbrausend und unberechenbar ist und bei einem Wutanfall so aussieht, als würde er gleich beißen. Er ist groß und fassförmig und ächzt wie ein altes Akkordeon, wenn er sich bückt, um sich die Schnürsenkel zu binden, oder Kreide aufhebt oder eine Zigarette fallen gelassen hat. Er kann sich nichts merken, verwechselt ihre Namen, kommt immer zu spät und geht wieder früh, aber die Jungs finden, er macht gute Witze, was für sie gleichbedeutend ist mit dreckig. Ein paar ältere Schüler, die Sechzehnjährigen aus der Sechsten, besuchen ihn abends zu Hause, wo sie rauchen, trinken und Filme anschauen. Wenn sie wiederkommen, riechen sie wie Erwachsene.

Alle haben ganz eigene Gründe, um zur Brücke zu gehen: meist, um zu rauchen und den Wodka oder Gin zu trinken, den sie direkt um die Ecke kaufen können; später dann, um Mädchen zu treffen oder einfach die Aussicht zu genießen. Einer der Jungen, heute ein erfolgreicher Unternehmer, sammelt rund um die Brücke oder in den Vorsprüngen und Einbuchtungen der Klippen die Seiten aus Pornoheften, die aus vorbeifahrenden Autos geworfen oder von den Hecken-Onanierern zurückgelassen wurden. Wenn er nicht richtig Glück hat, sind sie feucht und vom Tau aufgeweicht, deshalb nimmt er sie erst mal mit und trocknet sie auf der Schulheizung, um sie anschließend verkaufen zu können. Es gibt eine Preisliste: ganze Seiten sind teuer, für zerfetzte oder ausgerissene Stücke gibt es Nachlass. Man kann sie aber auch mieten.

Wir sind nur unweit des Hafens, von wo die Schiffe, deren Nebelhörner man beim richtigen Wind hört, ihre Tonnen an Containern über den Ärmelkanal schleppen. Es ist eine wasserreiche Grafschaft, mit Nebenflüssen geädert und von Meeresarmen oder Mündungen zerfranst. Ihre Kalkküste wird von den Wellen abgetragen, und ihre Flüsse ergießen sich ins Meer; eine Grafschaft der Brücken, Kais und Viadukte, und man kann fast nirgendwo hingehen, ohne mit der Tatsache von Wasser konfrontiert zu sein. Manchmal, bei Hochwasser, scheinen die Brücken ihren Fluss eher zu kämmen, als zu überqueren. McCloud hat mit ihnen einmal einen Ausflug zu den Medway-Viadukten gemacht, wo der Zug- und Autoverkehr den Fluss dreireihig überquert und bald ein Tunnel nach Frankreich entsteht, der, wie McCloud ihnen erklärt, die Fähren überflüssig machen wird.

Die Brücke verbindet die beiden Hälften der Stadt – eine Seite vornehm, geordnet und wohlhabend, die andere voller Sozialbauten, Industriegebiete und ramschiger Einkaufszentren. Es gibt B&Bs für die Reisenden, die ihre Fähre verpasst haben, sowie Pubs für diejenigen, die zu früh ankommen. «Zwei Städte, durch eine Brücke getrennt», witzelt McCloud bei jeder Überquerung: «Die Pässe dabei, Jungs? Und hoffentlich ausreichend geimpft? Wir betreten jetzt den dunklen Kontinent …»

Man kann fast nicht anders, als hinunterzuschauen: in den braunen Schlamm der Mündung, den glitzernden Perlmuttkies und den Schlick, den Abzugsgraben mit rieselndem Wasser, so schmal wie der Regen, der in einen Gulli rinnt. In der Sonne wölbt und wellt sich der Schlamm. Er braucht nicht viel Licht, um lebendig auszusehen. Und anziehend – ein Kissen aus glänzender, brauner Seide. Man ist versucht, zu springen.

Der Schüler ist begeistert von dem Geruch, der da aufsteigt und vom Wind hochgetragen wird. Es ist der Geruch von Mündungen: auf der einen Seite die Abzugskanäle; auf der anderen das offene Meer. Eigentlich müssten sie gegeneinander ankämpfen, aber hier scheinen sie so gut zu harmonieren wie ein süßsaures Gericht: eines ist Verstopfung, Fäulnis und Stillstand, das andere Entkommen, Freiheit und Bewegung. Er sagt den Rosenkranz an Hafennamen auf – Zeebrugge, Ostende, Calais, Cherbourg, Dieppe, Rotterdam …

Und mankann springen. Man kann springen, wann immer man will. Meist ist es eher die Neugier und nicht die Trauer, die einen hinunterschauen und plötzlich den Wunsch verspüren lässt, dabei den Verstand vorausschickt und sich vorstellt, wie es ist zu fallen – zu fallen und immer weiter zu fallen. Der Schüler ist wie hypnotisiert von der Aussicht, von ihrer Vollkommenheit. Nicht viele Dinge fühlen sich so vollkommen an wie das, was er beim Hinuntersehen erblickt. Nicht das Sterben als solches ist anziehend – so unglücklich ist er dann auch wieder