: Wolfgang-Andreas Schultz
: Europas zweite Renaissance Mensch, Natur und Kunst im Anthropozän
: Europa Verlag GmbH& Co. KG
: 9783958904132
: 1
: CHF 15.90
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: Allgemeines, Lexika
: German
: 184
: Wasserzeichen
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB
Europas zweite Renaissance wird keine Renaissance der ersten sein, sondern deren Korrektur. In der (ersten) Renaissance begann im Abendland eine Entwicklung, die von der Trennung des Menschen von der Natur, der Trennung Gottes von seiner Schöpfung und der Trennung des Ichs vom Anderen bestimmt war. Die Schattenseiten dieser Entwicklung werden jetzt sichtbar - in ihr liegen die gemeinsamen Wurzeln der ökologischen Krise und der künstlerischen Krisen der Moderne. Die erste Renaissance verdankt sich der Wiederbegegnung mit der Antike - aber was wurde seitdem alles vergessen? Europa kappte Wurzeln, mit denen es sich wieder verbinden muss, um lebendig und kreativ zu bleiben. Wenn es seine innere Vielstimmigkeit wiederentdeckt, wird Europa seine einseitige Entwicklung und sein unvollständiges Selbstbild korrigieren können. Wolfgang-Andreas Schultz legt den Grundstein für eine ökologisch inspirierte Ästhetik und zeigt, welche Chance für die Zukunft Europas in einer zweiten Renaissance liegt - wenn Europa die Trennung des Menschen von der Natur und vom Anderen überwindet und es schafft, verlorene und verdrängte Bereich wieder zu integrieren.

Prof. Dr. Wolfgang-Andreas Schultz, geb. 1948 in Hamburg, unternahm bereits mit 12 Jahren erste Kompositionsversuche; nach dem Abitur studierte er Musikwissenschaft, Philosophie und Germanistik an der Universität Hamburg. 1972 bis 1975 studierte er Komposition und Musiktheorie bei Ernst Gernot Klussmann an der Musikhochschule Hamburg. Sein Musikwissenschaftsstudium schloss er 1974 mit einer Dissertation über 'Die freien Formen in der Musik des Expressionismus und Impressionismus' ab. 1975 legte er die Diplomprüfung in Musiktheorie ab. Das Kompositionsstudium setzte er anschließend bei György Ligeti fort. 1977 wurde er Dozent an der Hamburger Musikhochschule und Assistent Ligetis, wobei er dessen Studenten in den traditionellen Disziplinen Harmonielehre, Kontrapunkt und Instrumentation unterrichtete. 1988 wurde Schultz Professor für Musiktheorie und Komposition. Wolfgang-Andreas Schultz ist als Komponist und Theoretiker einer evolutionären Ästhetik und einem ganzheitlichen Menschenbild verpflichtet. Er verwendet für seine Musik Gestaltungselemente der abendländischen Tradition ebenso wie solche der Moderne und außereuropäischer Kulturen. Er hat zahlreiche Aufsätze und Bücher zu Fragen der Musikästhetik, Musikphilosophie und Kompositionstechnik veröffentlicht: 'Damit die Musik nicht aufhört' (1997), 'Das Ineinander der Zeiten' (2001) und 'Avantgarde. Trauma. Spiritualität - Vorstudien zu einer neuen Musikästhetik' (2014). Gastvorträge führten ihn nach Youngstown (Ohio/USA), Zürich, Wien, Prag, Aarhus und in zahlreiche deutsche Städte. Seine Werke erlebten Aufführungen in Deutschland und der ganzen Welt, von Ägypten bis in die USA.

Gesichter einer zweiten Renaissance


Blicken wir noch einmal zurück auf die Renaissance, und zwar auf die erste! Bezieht man alles ein, was in dieser Zeit gedacht und geglaubt wurde, so bietet sich ein buntes und widersprüchliches Bild: Neben dem Aufblühen der rationalen, materiell orientierten Naturwissenschaft steht die Entdeckung der hermetischen Philosophie des Hermes Trismegistos, neben der kirchlichen Lehre vom Schöpfergott die neuplatonische All-Einheit-Lehre, neben der mathematisierten Natur die Idee einer Weltseele, und – gerade in ländlichen Gegenden – die noch lebendige Naturreligion mit Magie und Zauber – und irgendwie zwischen allem die Alchemie …

Angesichts der Tatsache, dass – von untergründig weiterwirkenden Strömungen wie etwa der Theosophie abgesehen – letztlich nur die materialistische Naturwissenschaft und der Theismus der beiden großen christlichen Konfessionen übrig geblieben sind, ein Theismus, der den außerweltlichen Schöpfergott lehrt, kann man beim Nachdenken über die eigene kulturelle Vergangenheit vermuten, »dass wir auf eine ganze Reihe von nicht verwirklichten, aber auch nicht zerstörten Hoffnungen stoßen«, wie Antonio Machado schrieb.204

Der französische Philosoph François Jullien lernte Chinesisch, nicht nur, um eine ganz andere Art des Denkens kennenzulernen als das in europäischen Sprachen mögliche, sondern auch, um den Blick zurück nach Europa zu wenden, um dort aufzuspüren, was zwar angelegt war, sich aber nicht entfalten konnte.205 Ein Beispiel mag das illustrieren: In dem BuchTheosophia practica von Johann Georg Gichtel (zuletzt 1779 wiederaufgelegt) finden wir die Darstellung eines Menschen als Mikrokosmos, dem die Sterne und Elemente als Makrokosmos zugeordnet sind an den Stellen, wo sich nach indischer Lehre die sieben Chakren befinden.206 Das stammt aus der alchemistischen Tradition, und Europa musste nach Indien pilgern, um es neu zu lernen.

Möglicherweise hat Europa in den letzten 200 Jahren mehr von dem vergessen, was Mensch und Natur verbindet, als das Mittelalter vom Erbe der Antike. Aber der Blick zu anderen Kulturen kann helfen, nach Verlorenem, Verborgenem und Verdrängtem in der eigenen Kultur zu suchen.

Um frei zu werden für eine solche Spurensuche, muss man sich vor allem vom linearen Geschichtsdenken lösen. Der Glaube, alles, was sich durchsetzte (oder durchgesetzt wurde), sei das Beste und hätte sich folgerichtig und zwangsläufig so entwickelt, führt zu einer Fehlinterpretation. Sie muss durch eine Einstellung ersetzt werden, »die das komplexe Zusammenspiel von verschiedenen sich verflechtenden, trennenden und kreuzenden Linien […] zu untersuchen weiß, an denen man zwischen verschiedenen Richtungen wählen konnte und nicht immer jene einschlug, die zum Wohle der großen Mehrheit war, sondern die, die jenen gesellschaftlichen Gruppen am gelegensten kam, die die erforderliche Überzeugungskraft und die nötigen Machtmittel an der Hand hatten, sie durchzusetzen.«207

Nötig ist also eine mehrdimensionale Geschichtsschreibung, die alle Strömungen einbezieht, parallele