Gesichter einer zweiten Renaissance
Blicken wir noch einmal zurück auf die Renaissance, und zwar auf die erste! Bezieht man alles ein, was in dieser Zeit gedacht und geglaubt wurde, so bietet sich ein buntes und widersprüchliches Bild: Neben dem Aufblühen der rationalen, materiell orientierten Naturwissenschaft steht die Entdeckung der hermetischen Philosophie des Hermes Trismegistos, neben der kirchlichen Lehre vom Schöpfergott die neuplatonische All-Einheit-Lehre, neben der mathematisierten Natur die Idee einer Weltseele, und – gerade in ländlichen Gegenden – die noch lebendige Naturreligion mit Magie und Zauber – und irgendwie zwischen allem die Alchemie …
Angesichts der Tatsache, dass – von untergründig weiterwirkenden Strömungen wie etwa der Theosophie abgesehen – letztlich nur die materialistische Naturwissenschaft und der Theismus der beiden großen christlichen Konfessionen übrig geblieben sind, ein Theismus, der den außerweltlichen Schöpfergott lehrt, kann man beim Nachdenken über die eigene kulturelle Vergangenheit vermuten, »dass wir auf eine ganze Reihe von nicht verwirklichten, aber auch nicht zerstörten Hoffnungen stoßen«, wie Antonio Machado schrieb.204
Der französische Philosoph François Jullien lernte Chinesisch, nicht nur, um eine ganz andere Art des Denkens kennenzulernen als das in europäischen Sprachen mögliche, sondern auch, um den Blick zurück nach Europa zu wenden, um dort aufzuspüren, was zwar angelegt war, sich aber nicht entfalten konnte.205 Ein Beispiel mag das illustrieren: In dem BuchTheosophia practica von Johann Georg Gichtel (zuletzt 1779 wiederaufgelegt) finden wir die Darstellung eines Menschen als Mikrokosmos, dem die Sterne und Elemente als Makrokosmos zugeordnet sind an den Stellen, wo sich nach indischer Lehre die sieben Chakren befinden.206 Das stammt aus der alchemistischen Tradition, und Europa musste nach Indien pilgern, um es neu zu lernen.
Möglicherweise hat Europa in den letzten 200 Jahren mehr von dem vergessen, was Mensch und Natur verbindet, als das Mittelalter vom Erbe der Antike. Aber der Blick zu anderen Kulturen kann helfen, nach Verlorenem, Verborgenem und Verdrängtem in der eigenen Kultur zu suchen.
Um frei zu werden für eine solche Spurensuche, muss man sich vor allem vom linearen Geschichtsdenken lösen. Der Glaube, alles, was sich durchsetzte (oder durchgesetzt wurde), sei das Beste und hätte sich folgerichtig und zwangsläufig so entwickelt, führt zu einer Fehlinterpretation. Sie muss durch eine Einstellung ersetzt werden, »die das komplexe Zusammenspiel von verschiedenen sich verflechtenden, trennenden und kreuzenden Linien […] zu untersuchen weiß, an denen man zwischen verschiedenen Richtungen wählen konnte und nicht immer jene einschlug, die zum Wohle der großen Mehrheit war, sondern die, die jenen gesellschaftlichen Gruppen am gelegensten kam, die die erforderliche Überzeugungskraft und die nötigen Machtmittel an der Hand hatten, sie durchzusetzen.«207
Nötig ist also eine mehrdimensionale Geschichtsschreibung, die alle Strömungen einbezieht, parallele