: Hans Neuenfels
: Fast nackt Letzte Texte - mit einem Nachruf von Elke Heidenreich | Das letzte Buch des großen Theatermanns mit bisher unveröffentlichtem Bildmaterial. Buch des Jahres Opernwelt
: Eisele eBooks
: 9783961611485
: 1
: CHF 17.90
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: Romanhafte Biographien
: German
: 256
: Wasserzeichen
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB
Er ist achtundsiebzig, als er erfährt, dass er für den Rest seines Lebens drei Mal in der Woche ans Dialyse-Gerät muss. In dieser gnadenlosen Abhängigkeit von einer Maschine blickt er auf sein Leben zurück - ein Leben mit einer chronischen Nierenkrankheit, aber auch ein Leben, das bis an seine Grenzen ausgekostet wurde, voller Kunst, voller Literatur, voller erfüllender Schaffensprozesse. Vor allem aber blickt er nach vorn: Was bedeutet diese Maschine für seine Arbeit als Theaterregisseur, der er noch immer wie besessen nachgeht, für seine Beziehung zu seiner Frau, die seit über fünfzig Jahren an seiner Seite ist, für seinen Sohn und seinen Enkel? Und was erwartet ihn danach?  Hans Neuenfels sorgte mit seinen Arbeiten fu?r stu?rmische Auseinandersetzungen, die ihn u?ber die Theaterwelt hinaus weit bekannt machten. Mit seinen letzten Texten gibt er einen persönlichen Einblick in sein Leben und Wirken. Ehrlich und schonungslos - vor allem sich selbst gegenu?ber - beschreibt der provokante Theater- und Opernregisseur, Intendant und Schriftsteller das Leben mit einer chronischen Krankheit. Fu?r das Buch hat seine lebenslange Freundin Elke Heidenreich einen Nachruf verfasst. 

HANS NEUENFELS war einer der erfolgreichsten und umstrittensten Theater- und Opernregisseure Deutschlands. Geboren 1941 in Krefeld, studierte Neuenfels zunächst Schauspiel und Regie am Max-Reinhardt-Seminar in Wien. Ein Jahr lang war er Assistent des Malers Max Ernst, mit dem er in Paris lebte, bevor seine Karriere als Regisseur am Theater am Naschmarkt in Wien begann. 1965 wurde er dort Chefdramaturg, in den 1970ern erzeugte er mit seiner Inszenierung von Verdis Aida ein Publikumsecho, das weit über die Theaterwelt hinaus nachhallte. Neuenfels' Inszenierungen waren stets getrieben von dem Anspruch, sich auf der Bühne mit Politik und Gesellschaft auseinanderzusetzen - ein Umstand, der oft für Furore sorgte. Hans Neuenfels galt als künstlerischer Grenzgänger, der neben seiner Arbeit als Theater- und Opernregisseur auch schriftstellerisch tätig war. Seine Texte erschienen in Die Zeit und Theater heute, 1991 veröffentlichte er seinen ersten Roman Isaakaros, 2011 das autobiografische Werk Das Bastardbuch. Hans Neuenfels war mit der österreichischen Schauspielerin Elisabeth Trissenaar verheiratet, ihr gemeinsamer Sohn Benedict Neuenfels ist international als Director of Photography tätig. Das Paar lebte zuletzt gemeinsam in Berlin.

DUISBURG
IN NEW YORK

Eine sofortige Klarstellung: Ich bin nicht aus New York. Aber wer in Berlin ist schon Berliner?! Alle eingewandert, zugewandert, ausgewandert von … zum Beispiel von Duisburg, wie ich. Wenn man Duisburg nicht wie Du-isburg ausspricht, kann man an abdüsen denken, aber was denkt man bei Darmstadt? An eine Anhäufung von Fäkalien? Übrigens habe ich Tübingen immer mit Göttingen verwechselt, keine Ahnung warum. Das Erste ist die volle Kanne Schrecklichkeit, das Zweite eine trübe Tasse von ihr.

Ich bin auch kein Amerikaner, und ich möchte es nie werden. Die besseren Amerikaner sind ohnehin Juden, was zu werden ich mir schon eher vorstellen kann, aber es drängt nicht. In Duisburg besteht kein Zweifel darüber, dass die Welt nicht auszuhalten ist. Nichts kann einem da irgendetwas vormachen. Duisburg ist die Wahrheit über die Welt. Ein Kleinod an Reinheit über diese unwiderlegbare Tatsache, ein Diamant, ein Edelstein der Erkenntnis, ein Augapfel an Aufrichtigkeit, ein Ausnahmefall in der allgemeinen Verblendung.

Als wir noch unter die Erde gegangen, in die Gruben gefahren sind, wollte ich sagen, schien es oben gerade noch aushaltbar, weil es unten unübertrefflich furchtbar war, doch dann blieb nur noch eine durchgehende Ebenerdigkeit für uns übrig, und wir mussten begreifen lernen, wo und woran wir sind. Ich habe das schon früh verstanden. Wir spielten auf einer Kohlenhalde. Plötzlich war der Junge, Karl-Heinz hieß er, weg. Spurlos. Sie suchten ihn und fanden ihn nie. Also, in Duisburg kann man verschwinden wie nichts. Da sind die Dritte Welt, Istanbul, Kairo, die Sibirische Steppe, Tanger gar nicht mehr nötig. Und da dachte ich mir, ehe ich fort bin wie nichts, gehe ich lieber selbst und habe mich noch ein Weilchen. Denn wie jede Wahrheit ist Duisburg ein Saugnapf und lässt einen nicht los, ein Polyp mit unzähligen Armen und Beinen, ein Meister des Umkrallens und unschlagbar im Einholen.

Ich will damit sagen, man braucht eine gehörige Portion List und Zähigkeit, um die grauen Gardinen, die verkrüppelten Platanen, die Baggergruben mit den plötzlichen Untiefen – auch Kurt-Wilhelm verschwand spurlos in einer von ihnen – und später die Eckkneipen mit den Altmännergeschichten und die am Freitagabend frisch frisierten Mädchen zu verlassen, besonders, wenn sie die Lockenwickler herausgezogen und sich ausgekämmt haben. Es kann sein, dass man aus Geldern, Füssen, Mannheim, Braunschweig, Nürtingen, Kaldenkirchen auch schwer fortkommt, aber aus Duisburg eigentlich nie. Ich habe in New York nie einen Duisburger getroffen. Aus Kaiserslautern, Pforzheim, Krefeld, Ingolstadt, Süchteln, Graz, sogar aus Biel-Solothurn hin und wieder jemanden, aus Duisburg nie. Ich glaube nicht, dass es die Scham ist, die die Duisburger daran hindert, sich zu ihrer Stadt zu bekennen, nein, ich bin fest davon überzeugt, dass sie an der Wahrheit kleben bleiben wie die Fliegen am Leim, der nicht oft genug zu wiederholenden Wahrheit, dass es unaushaltbar ist auf der Welt, und dass man nur und ausschließlich die ganze Fülle und Auswirkung davon in Duisburg erleben kann – immerhin das.

Mit Stolz und Selbstbewusstsein tragen die Duisburger ihr Kainszeichen, das als tiefes Schwarz auf ihre Stirn, um ihren Mund, unter die Augen in das Grau ihrer Gesichter eingekerbt ist – das Erbe ihrer Tage unter der Erde, die sie mit lebensgefährdender Leidenschaft erforschten.

Damals, als Zwölfjähriger, sah ich das ganz anders. Ich wollte nur fort. Vielleicht, weil ich die Wahrheit nicht aushielt, dachte ich später. Zumindest wollte ich sie fliehen, ihr so nicht begegnen. In New York brauchst du die Wahrheit nicht. Ich weiß, es scheint unsinnig, Duisburg mit New York zu vergleichen, aber ich kenne nur diese zwei Städte, und durch den Vergleich entdecke ich Neues an ihnen und mir. Ich stelle mir vor, was passiert wäre, hätte John F. Kennedy in Berlin statt »Ich bin ein Berliner!« »Ich bin ein Duisburger!« gerufen. Erstens wäre es eine Vision gewesen, denn er lag nicht lange darauf selbst unter der Erde, in der Grube, und zweitens hätte die Frage, warum ein Amerikaner in Berlin bekennt, dass er ein Duisburger sei, ganz andere Dimensionen angenommen, und für Duisburg wäre es der endgültige Durchbruch geworden.

Ich weiß nicht, ob es allen Duisburgern derartig klar ist wie mir, aber ich kann mir nicht vorstellen, dass es je zu einer Partnerschaft zwischen New York und Duisburg kommen wird, was äußerst bedauerlich ist, denn eine größere Gegensätzlichkeit findet man selten. Und gerade die Reibung ist es doch, die uns wach macht und unsere Sinne schärft, oder? Bei mir verhält es sich jedenfalls so, ein Duisburger in New York, das muss gut gehen, dachte ich, eine ideale Mischung, und wenn man von einem bestimmten Ereignis, das ich zu schildern versuche, kurz einmal absieht, hat es sich auch bestens eingelöst.

Wussten Sie, dass wir Duisburger den größten Binnenhafen Europas haben mit einem Umschlag von 21 Millionen Tonnen?! Wenigstens 1970 war das so, als ich zur Schule ging. Und wir liegen an der Ruhr und der Emscher, und der Rhein hat bei uns eine Breite von 400 Metern; und wo liegt New York? An d