1. KAPITEL
Nervös ging Mimi im Gastraum auf und ab. Immer wieder trat sie an den vordersten Tisch an der Seitenwand und schaute aus dem Fenster, durch das sie die Straße sehen konnte. Keine Spur von Jack, und es war schon Viertel nach drei. Wo steckte ihr Sohn bloß?
In der Lachmöwe – der Hafenbar, die ihre Eltern seit über dreißig Jahren betrieben – war es ruhig, ganz normal für einen Dienstagnachmittag. Später würde es voller werden, wenn die Arbeiter des umliegenden Jachthafens Feierabend hatten. Auch die Einheimischen kamen dann gern auf ein Feierabendbier vorbei oder aßen eine Kleinigkeit.
Die Theke befand sich gleich vorn am Eingang, dahinter lag die kleine Küche. Links von der Theke ging eine Seitentür auf eine wenig benutzte Terrasse hinaus. Die Lachmöwe lag an einer belebten Straße, doch durch die Fenster in der Gaststube hatte man einen herrlichen Blick auf den Crab Creek und die Chesapeake Bay. Ihr Elternhaus, in dem Mimi aufgewachsen war, stand links hinter einer üppigen Hecke aus Hortensien.
Seufzend wandte sich Mimi vom Fenster ab und ging zum Tresen. Es fühlte sich gut an, wieder zu Hause zu sein, auch wenn sie über die Umstände nicht glücklich war.
Zehn Jahre, einfach so verschwendet.
Sie nahm ein Tuch und wischte die Theke zum dritten Mal ab. Hoffentlich kamen ihre Eltern bald zurück, denn dann konnte sie sich auf die Suche nach Jack machen. Oder ihr Sohn kam endlich von selbst nach Hause.
Kurz darauf öffnete sich die Tür, und Mimi atmete auf.
„Hey, Jacky!“, rief sie. „Ich habe mich schon gefragt, wo du …“
Sie unterbrach sich, als sie sah, dass ihr Sohn von einem Fremden begleitet wurde. Er überragte Jack um einiges, und sein dunkles lockiges Haar umrahmte ein kantiges Gesicht. Die Nase war groß und gebogen, die dunkelbraunen Augen lagen unter dichten schwarzen Brauen. Als ihr Blick auf seine vollen Lippen fiel, dachte sie peinlicherweise sofort daran, wie es wäre, den Mann zu küssen.
Verlegen blickte sie ihm in die Augen, doch das machte die Sache auch nicht besser, denn sein Blick hielt ihren fest und schien ihr etwas sagen zu wollen, was sie jedoch nicht verstand. Schließlich senkte sie den Kopf und betrachtete dabei seinen hochgewachsenen schlanken Körper.
Als sie sah, dass er sehr ähnlich gekleidet war wie ihr Sohn, musste sie fast lachen. Dem Fremden standen die Klamotten allerdings eindeutig besser als Jack, der mit seinen neun Jahren darauf bestand, alles eine Nummer zu groß zu tragen. Bei dem Mann hinter ihm betonte das Kapuzenshirt die breiten Schultern, und das weiße T–Shirt spannte sich über einer muskulösen Brust. Die verblichenen Jeans saßen perfekt.
Mimi schloss kurz die Augen. Als sie den Fremden wieder anblickte, lächelte er kurz. So kurz, dass sie sich nicht sicher war, ob sie sich das nur eingebildet hatte.
„Ich muss wohl nicht fragen, ob Sie mit diesem jungen Mann hier verwandt sind“, sagte der Mann mit wohlklingender tiefer Stimme.
Sie hörte oft, dass Jack und sie einander sehr ähnlich sahen. Sie hatten dieselbe Haarfarbe – ein helles Braun mit dunkelblonden Strähnen. Auch die dunkelblauen Augen hatte Jack von ihr geerbt. Was die Form des Gesichts anging, ähnelte er Mimis Meinung nach allerdings mehr seinem Vater. Sein Kinn war kantiger als ihres, und je älter ihr Sohn wurde, desto ausgeprägter zeigten sich die hohen Wangenknochen.
Jack kletterte auf einen der Barhocker und starrte den Mann mürrisch an. „Ich habe überhaupt nichts gemacht, ich …“
Unauffällig ließ Mimi das Tuch in die Spüle fallen, das sie bislang umklammert gehalten hatte. Sie trocknete sich die Hände ab, trat hinter dem Tresen hervor und streckte dem Fremden die Hand hin.
„Hallo, ich bin Mimi Green, Jacks Mutter.“
„So heißt er also,Jack.“ Der Fremde warf ihrem Sohn einen Blick zu und wandte sich dann wieder an sie. „I