: Sinclair Lewis
: Das Kunstwerk
: Books on Demand
: 9783755750277
: 1
: CHF 0.90
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: Hauptwerk vor 1945
: German
: 424
: kein Kopierschutz
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB
"Das Kunstwerk" ist ein 1934 erschienener Roman des amerikanischen Schriftstellers Sinclair Lewis. Der Originaltitel lautet"Work of Art".

Harry Sinclair Lewis (geboren 7. Februar 1885 in Sauk Centre, Minnesota; gestorben 10. Januar 1951 in Rom) war ein amerikanischer Schriftsteller, der durch seine gesellschaftskritischen und satirischen Romane berühmt wurde. 1930 wurde ihm als erstem Amerikaner der Nobelpreis für Literatur zugesprochen.

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Das flache Dach des American House, des größten und bedeutendsten von Black Thread Center in Connecticut, war mit rotgestrichenen Weißblechplatten belegt, deren jede die eingestanzte Inschrift »Phoenix, das Weißblech der Könige« trug. Es war zwar erst zwei Minuten nach sechs Uhr, aber an diesem Julimorgen des Jahres 1897 glühte das Dach bereits. Das Blech hatte die Temperatur eines Plätteisens, und der Teer am Ziegelgesims, der den ganzen vorhergehenden Nachmittag Blasen geworfen hatte, war brennend heiß.

Tief unten in der Putnam Street, ganze drei Stockwerke unterhalb des roten Blechdaches, äußerte der Schutzmann Tad Smith gegenüber dem Möbelhändler Mr. Barstow: »Na, das wird heute auch wieder so n Hundstag werden wie gestern.«

Mr. Barstow dachte darüber nach. »Ich kann nur sagen, Sie haben recht. Ein regelrechter Hundstag.«

»Jawoll Herr, n Hundstag«, wiederholte Tad sinnend und ging seines Wegs – um vielleicht nie wieder in der Geschichte aufzutauchen.

Hoch oben über diesen biederen Bürgern aber tanzte auf dem roten Blechdach, berauscht von Jugend und Morgenglanz, voll jubelnder Wonne über seine neu entdeckte Sangeskraft ein junger Dichter, ein Sohn der Himmel. Nur Lancelot, der Hotelhund, war bei ihm, und ohne jede Scham begrüßte er den Sonnengott, der sein Bruder war. Die Melodie »Heut nacht, da ist was los im Städtelein« pfeifend, schritt er, sich seiner Jugend und seines Genies freuend, auf und nieder; seine Hände arbeiteten, als führte er eine Militärkapelle an, seine Füße tanzten kleine verschlungene Muster, sein ganzer Leib pendelte und schwankte hin und her, sein Kopf ruckte von einer Seite zur anderen. Lancelot bellte anerkennend – die erste von den Beifallsäußerungen, die die Zukunft für den Meister barg.

Der junge Dichter führte den nicht gerade überaus romantischen Namen Ora Weagle, aber er hatte eine ganze Menge Swinburne, Longfellow, Tennyson und Kipling gelesen. Er zählte fünfzehn Jahre und war sich schon bewußt, daß er zu einer Welt gehörte, die größer war als Black Thread Center. Ja, er verachtete Black Thread und insbesondere alles, was mit dem American House zu tun hatte, dessen Besitzer sein Vater, der alte Tom Weagle, war.

Als er an das fabelhafte Gedicht dachte, das er am Abend vorher geschrieben hatte, verwandelte sich seine faunisch überschäumende Lebensfreude in scheue Ehrfurcht, und er begann (während Lancelot sich mit enttäuschter Miene niederließ, um sich zu kratzen und ein Schläfchen zu machen) erst zu säuseln, dann zu murmeln und schließlich mit laut erhobener Stimme zu deklamieren – Ora, der junge Keats, delektierte sich hoch in den Lüften, zwischen Phönix-Dachbelag und Himmel, an seinem Meisterwerk:

»Kalt ist dein Auge, kalt ist dein Leib und kalt deine Hand,

Kalt wie der Schnee, in den die Connecticut-Höhn sich hüllen,

Doch sieh! zersprengen will ich, mit dem du mich hältst, das Band,

Bis meiner Kraft wild flammende Gluten ganz dich erfüllen!

Oh, ich bin stolz, ich bin mächtig, und um mich ist Schrecken und Furcht,

Was wider mich löcket, zertret ich wie schmählichen Unrat und Plunder.

Du bist mir ein Feld, noch harrend der Pflugschar, die es durchfurcht,

Und deiner Seele Geburt soll sein ein schimmerndes Wunder!«

»Herrje, wenn ich bloß wüßte, wo ich das herhab!« flüsterte er.

Die dröhnende Pracht der Verse begeisterte ihn, und so stolzierte er singend und mit den Armen fuchtelnd weiter.

»Stolz bin ich, stolz,

Um mich

Ist Schrecken und Furcht,

Ist Schrecken und Furcht,

Höre! Stolz bin ich,

Um mich

Ist Schrecken und Furcht,

Stolz bin ich, schrecklich stolz!«

Und die Strahlen, mit denen die Sonne ihn überschüttete, kleideten ihn in doppelte Glorie, denn sie wurden von dem roten Blechdach reflektiert.

Das Pfeifen des Zuges, der um sechs Uhr sieben von den Berkshires ankam, ließ Ora, den von Morgengluten Umlohten, nicht weiter auf Wolken wandeln und erinnerte ihn daran, daß er Brennholz für das American House klein zu machen hatte. Er murmelte zwar noch vor sich hin: »Schrecken und Furcht«, konnte sich aber doch nicht enthalten, über das Gesims zu blicken und die Wirklichkeiten des Provinzlebens ins Auge zu fassen. Von der Station der New York, New Haven& Hartford her kam, seine beiden Köfferchen tragend, der typische, der unvermeidliche, der aus dem Weltbild gar nicht fortzudenkende Handlungsreisende. Unten, abgrundtief unter Ora, sprengte sein Bruder Myron Weagle mit einer abscheulichen, verbeulten grünen Gießkanne den Bürgersteig. Ora beobachtete diese unerfreuliche Alltagsposse belustigten Blicks. Seine Großmut gegenüber Myron war nicht weniger ein Teil seiner Dichtererhabenheit als Gluten und Machtfülle und Furchtbarkeit.

Der arme Myron! Myron, so überlegte Ora, hatte keine Phantasie, keine Begeisterungsfähigkeit, keinen Sinn für Schönheit, kein Verlangen danach, schöpferisch zu sein oder mehr zu leisten, als die Beschäftigung mit den trivialen täglichen Arbeiten, die ihn zu befriedigen schienen, mit sich brachte.

Obgleich Myron theoretisch um zwei Jahre älter – siebzehn – war, kam sich Ora um eine ganze Generation älter und welterfahrener vor. Selbst am Äußeren war der Unterschied zu sehen: Ora ganz schlank, rasch, mit schönem Haar, so schwarz wie schwarzes Glas, und Myron, damals, groß und schwerfällig, mit einem struppigen Schopf hanffarbener Haare. Ora hatte oft gedacht, er selbst gleiche einer Katze: geschmeidig, schnell, selbständig, während Myron ganz und gar ein Hund sei, und zwar nicht ein Windspiel oder Jagdhund, sondern ein Bauernköter: plump, erbärmlich gutmütig, treu jedem nichtswürdigen Herrn.

»Na ja, der arme Teufel«, dachte Ora, »wahrscheinlich wird er auf seine Bauernart glücklicher sein als ich. Ich geh nach New York! Ich werde ein vollkommenes Kunstwerk schaffen! Herrgott, sicher werd ich leiden, was das Zeug hält, so wie inSentimental Tommy und inDavid Copperfield, während er hier bleibt und sich in der Sonne kratzt – wie du, Lancelot!«

Ora sah zu, wie sein dummer großer Bruder dem Reisenden ein Stückchen entgegenging, ihn begrüßte und ihm sein Gepäck abnahm.

»Wie ein Dienstbote!« seufzte Ora.

»Los, Lancelot, wir müssen runter und zusehen, daß wir was zum Frühstück kriegen«, kommandierte er. Doch bevor er seinen Posten am Gesims verließ, musterte er voll Abscheu Black Thread Center und erblickte nichts, was seiner Aufmerksamkeit wert gewesen wäre. Vom Dach des American House, das um die Höhe eines ganzen Stockwerkes über alle anderen Gebäude der Ortschaft emporragte, konnte er alles in der kleinen Welt des Städtchens übersehen.

(Ora dachte daran, daß es Leute gab, für die Black Thread Center und East Black Thread der Nabel der Welt waren, von dem aus man Entfernungen maß nach Rom und Schanghai und Tierra del Fuego, Leute, die die Wichtigkeit eines Eisenbahnzuges, eines Zirkus' oder einer Religion danach abschätzten, ob sie nach Black Thread kamen oder nicht. Ora staunte über solchen Provinzialismus. Für ihn – ach, New York, London, Paris, Berlin, Monte Carlo!)

Mißfällig betrachtete er die roten Backsteingebäude des Ortes: Cal Bigus' Laden – Wand- und Taschenuhren, Bijouteriewaren, Fahrräder – neben dem Hotel. Barstows Möbelmagazin und Beerdigungs-Institut gegenüber. Der Fachwerkbau der N. Y., N. H.& Hartford-Station mit ihrem schmierigen Bahnsteig. Der Marktplatz und das gußeiserne Standbild des Bürgerkriegssoldaten. Allerdings konnte er auch den Housatonic River hinter den Geleisen sehen und jenseits der Stadt eine mit Ulmen, Ahornbäumen und Tannen dicht bewachsene Anhöhe.

»Aber trotzdem, bloß so ganz gewöhnliches Land. Nichts Historisches. Keine Burgen. Ach! Komm, los, Lancelot!« sagte Ora.

Er drehte dem fleißigen Myron, der das Gepäck des Reisenden trug, eine lange Nase und ging, »Schrecken und Furcht« vor sich hinsingend, zur Falltür. Er blieb noch eine Weile stehen. »Nichts Romantisches. Aber auch schon gar nichts! Und was für ein Name das ist! Black Thread Center!«

Der Reverend Thaddeus Prout aus Beulah in Connecticut hatte das ganze Jahr 1637 hindurch seine behaglich dahinlebende Gemeinde Sonntag um Sonntag darauf hingewiesen, daß die Bergschlucht im Norden und Osten gegen die Indianer gesichert werden müsse. »Ich predige euch die ewige Gnade, und ich predige euch auch ewige Wachsamkeit«, donnerte der alte Geistliche auf der hohen Kanzel der Kongregationisten-Kirche. »Ich predige euch die unaufhörliche Übung des Gebetes – und die unaufhörliche Übung des Musketenschießens, wie ich es in Seiner Majestät Worcestershire-Leibregiment gelernt habe. Ich sage euch, diese...