WOHIN DER WIND TRÄGT
1 Ich hatte den Sommer und den Herbst in Südalbanien verbracht, genauer gesagt in einem Küstendorf nahe der griechischen Grenze, wo ich dauerhaft ein Haus angemietet hatte. Eigentlich wollte ich bleiben, dann aber lief mein Visum aus und wurde trotz Antrag nicht verlängert. Daher musste ich, um keine hohe Strafe zu riskieren, das Land zügig verlassen, zu zügig, um noch einen günstigen Flug von Tirana aus zu bekommen. Griechenland hielt wegen der Corona-Pandemie die Grenze streng geschlossen, Montenegro im Norden desgleichen, sodass sich das Kosovo oder Mazedonien und damit der Osten als Ausweg anbot. Von dort aus würde ich problemlos weiter nach Deutschland kommen: Ich buchte ein Busticket für den folgenden Tag und einen Flug für zwei Wochen später. So kam ich abends am Busbahnhof von Prizren an, der zweitgrößten Stadt des Kosovo. Es war empfindlich kalt, viel kälter als noch ein paar Stunden zuvor in Tirana. Ich kannte die Stadt von einer früheren Reise und wusste wohin – aber so dunkel, windig und leer, wie sie sich jetzt zeigte, war sie mir doch neu. Nicht nur der November leerte die ansonsten vollen Straßen und Cafés, sondern auch eine frühe Sperrstunde, die im gesamten Kosovo galt. Der nahende Winter lag in der Luft, samt den Abgasen der Ausfallstraße und der stillen Katastrophe der Pandemie.
Prizren ist das Tor zum Sharri-Gebirge zwischen Kosovo und Mazedonien. Vor vier Jahren war ich hier mit Edis unterwegs, einem, man kann es nicht anders sagen, Sportfanatiker, der sein Haus zum Hostel ausgebaut und als Bergführer Beruf und Hobby in Einklang gebracht hatte. Im Sommer ist dort richtig was los, und so hatte ich die Stadt auch in Erinnerung: Prizren ist mit seiner Moschee, der alten Brücke und dem Shadervani-Platz durchaus auf der Liste der internationalen Backpackergemeinde. Vor allem das Alltagsleben hat Charme, und wer ein Ohr hat für Sprachen, dem wird auffallen, dass neben Albanisch auch Bosnisch, Türkisch und vereinzelt Serbisch gesprochen wird. Der serbische Präsident Milošević hatte die Stadt einst als »albanerfrei« deklariert, doch es war anders gekommen, heute gibt es kaum noch Serben in der Stadt. Dass das WortKosovo kein Eigenname ist, sondern eine besitzanzeigende Form des Hauptworteskos – das Amsel bedeutet, und zwar auf Serbisch –, hatte mir damals schon Edis erläutert:Kosovo polje bedeutet Amselfeld. Edis ist polyglott, er wechselt zwischen den Sprachen, je nachdem mit welchem Freund er gerade Kaffee trinkt. Er hat mich gelehrt, das Kosovo weniger als Land zu betrachten denn als Landstrich. Er sprach vom Kosovo als einer hügeligen Senke inmitten von Hochgebirgszügen, seit Jahrtausenden ein vergleichsweise freundlicher Siedlungsraum, der sich für Ackerbau ebenso wie für Viehzucht eignet. Daher überlappen und vermischen sich in den Ebenen die Siedlungsgebiete verschiedenster religiöser und ethnischer Gruppen. Albaner und Serben sind nur die prozentual stärksten, aber nicht die einzigen. Das ist keine besondere Eigenheit des Kosovo, vielmehr zeigt sich hier beispielhaft Balkangeschichte. Die gesamte Region ist heute noch von den gut fünfhundert Jahren osmanischer Herrschaft geprägt, die erst kurz vor dem Ersten Weltkrieg endete.
Edis hatte das erste Pandemiejahr hauptsächlich mit Sport verbracht und zeigte mir stolz eine App, die seine Lauf-, Rad-und Trailrunning-Kilometer zählt: »Persönlicher Rekord. Und du so?«
Gott, was sollte ich sagen. Im Juli hatte ich mich aus Deutschland losgeeist, unternommen hatte ich kaum etwas, war fast ausschließlich im Dorf gewesen, hatte das Haus instand gesetzt und den verwilderten Garten gezähmt. Jetzt sollte es zurückgehen.
»Ich dachte, du wohnst inzwischen in Südalbanien?«
»Schon, aber immer noch als Tourist.«
»Das heißt?«
»Dass ich erst nach drei Monaten wieder zurückkann, wegen des Visums.«
»Und was willst du in Deutschland, bleib doch im Süden!«
Nun, die Winter im Süden zu verbringen, das ist so eine romantische Idee, die nichts von schlecht isolierten Häusern, nasskaltem Wetter und der allgemeinen Misere weiß, die rund um das Mittelmeer mit dem Novemberregen einsetzt. Nein, im Winter ist es im Norden eindeutig besser, dort sind die Tage zwar kürzer, die Sonne bleich, aber die Wohnungen, die Cafés und Gaststuben gut beheizt und gemütlich. Dort und in den Bergen, also überall, wo man auf längere Kälteperioden eingestellt ist, lässt es sich aushalten.
»Dann geh doch hier in die Berge!«
»Wohin denn? Und wenn, dann bräuchte ich was für länger.«
Ich dachte, mit diesem Anspruch würde ich Edis den Wind aus den Segeln nehmen, aber das Gegenteil war der Fall, er nahm Fahrt auf.
»Da findet sich schon was!«
»Du weißt, ich bin ein armer Schreiberling!«
»Mach dir keine Sorgen. Pass auf, am Ende schreibst du noch was über das Kosovo!«
Wir saßen in der kleinen Küche des Hostels, denn nur dort stand ein Gasofen. Au