: Helmut Lauschke
: Gleise der Erinnerung Von den Gewichten des Lebens
: neobooks Self-Publishing
: 9783742770400
: 1
: CHF 11.70
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: Erzählende Literatur
: German
: 169
: kein Kopierschutz
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB
David: Zwei Dinge beherrschen die Landschaft, es sind die Türme und die Gräben. Bei den Türmen unterscheiden sich die Kirchtürme von den Wach- und Schießtürmen und bei den Gräben sind es zum einen die Gräben der militärischen Verteidigung und zum andern die Gräben zum Auffüllen mit erschossenen Männern, Frauen und Kindern. Es ist das Landschaftsbild der Trostlosigkeit, der Verworfen- und Verlorenheit und der Schande durch die Arroganz und den Mangel an Brot und Menschlichkeit. Das Stadtbild hatte sich seit der 'Reichskristallnacht' drastisch zum grausamen Erschrecken verändert. Die zerschlagenen Schaufenster wurden verbrettert und mit dem Judenstern oder dem Wort 'Jude' beschmiert. Erst mit der Übernahme durch einen Arier bekamen die Fenster neue Scheiben. Die Synagoge verblieb im geschändeten Zustand und bot das Dauerbild trauriger Verwahrlosung. Nun war Luise Agnes nur eine Halbjüdin, und das arische 'Defizit' war ihrem Gesicht, der feinen Nase, dem gekräuselten dunklen Haar und den tiefbraunen Augen anzusehen. Eckhard Hieronymus machte sich Sorgen um die Familie, weil er es bei dem Rassenwahn für eine Frage der Zeit hielt, dass er von Braunhemden oder den Gestapoleuten in schwarzen Ledermänteln besucht würde, um ihn auf die beruflichen Konsequenzen hinzuweisen, deren Ursache das Zusammenleben mit einer Halbjüdin als Ehefrau ist. An der weichen Stimme, die aufgrund der diskriminierenden Ereignisse angebrochen war, erkannte er den Kinderarzt Dr. Weynbrand wieder. Sie sahen einander ins Gesicht und gaben sich die Hand, wissend, dass sie verbotene Dinge taten. 'Ïch freue mich, dass wir uns noch einmal sehen', begann Eckhard Hieronymus, worauf Dr. Weynbrand erwiderte, dass es wohl das letzte Mal sein werde. 'Wie meinen Sie das?', fragte Eckhard Hieronymus. 'Wir haben die Mitteilung bekommen, dass wir unsere Sachen packen sollen und uns in fünf Tagen auf dem Bahnhofsplatz einzufinden haben. Von dort werden wir mit unseren Kindern und Kindeskindern abtransportiert.'

• 1985-1998 Arzt und Chirurg/Unfallchirurg am Hospital in Oshakati (im Norden Namibias nahe der angolanischen Grenze; innerhalb der Kampfzone bis zur Unabhängigkeit 1990)• entwickelte eine Operationsmethode, Kindern mit chronischer Schienbein-Osteomyelitis den langen Knochendefekt nach Sequesterentfernung mit vitalem Knochen aus dem Wadenbein zu schließen und so das Bein vor einer Amputation zu retten. (publiziert April 1994 im American 'The Journal of Bone and Joint Surgery')

Das ist doch der Kinderarzt Dr. Weynbrand




Es war bekannt, dass jüdische Professoren von ihren Lehrstühlen vertrieben, jüdische Richter aus den Gerichten verwiesen wurden, ihnen die Ausübung der Berufe unter Strafandrohung verboten wurde. Die Praxen jüdischer Anwälte und Ärzte wurden geschlossen, wenn sie nicht vorher von arischen Kollegen übernommen worden waren. Viele der jüdischen Wissenschaftler, Ärzte, Architekten und Künstler waren ins Ausland emigriert zu einer Zeit, als die Emigration noch möglich war. Doch das hatte sich bald zum Entsetzen der Juden geändert, für die die deutsche Reichsgrenze hermetisch abgeriegelt war. Für sie gab es keine Ausreiseerlaubnis. Der Fluchtweg unter Einsatz des Lebens und Zurücklassung des Eigentums war ihnen abgeschnitten. Für sie waren ganz andere Maßnahmen vorgesehen.

Das Stadtbild hatte sich seit der Reichskristallnacht drastisch und nachhaltig zum grausamen Erschrecken verändert. Die zerschlagenen Schaufenster wurden verbrettert und mit dem Judenstern oder dem Wort “Jude” beschmiert. Erst mit der Übernahme durch einen Arier bekamen die Fenster neue Scheiben. Die Synagoge verblieb im geschändeten Zustand und bot das Dauerbild trauriger Verwahrlosung. Den Juden war das Abhalten des Gottesdienstes untersagt. Die antisemitischen Gesetze und Erlasse betrafen alle Familien. Es musste der arische Nachweis von denen erbracht werden, die als Beamte im Staatsdienst standen. Dazu zählten Professoren, Lehrer, Busfahrer, wie auch die Priester und Pastöre. Gab es bei den Vorfahren jüdisches Blut, dann halbierte sich der jüdische Blutanteil von Generation zu Generation, vorausgesetzt, dass in den Folgegenerationen keine jüdische Auffrischung erfolgte. So war jemand ein Vierteljude, wenn Großvater ein Jude oder Großmutter eine Jüdin war. Für den Vierteljuden gab es im Staatsdienst keine Anstellung.

Auch wenn Eckhard Hieronymus arisch “rein” war, so war seine Frau, Luise Agnes, eine Halbjüdin, weil ihre Mutter, Elisabeth Hartmann, eine getaufte Jüdin war, die mit dem Mädchennamen Sara Elisa Kornblum hieß. An der Seite ihres Mannes, dem Pastor Eduard Hartmann, seit fünf Jahren im Ruhestand, war sie eine treue Ehefrau, eine gute Mutter, Großmutter und Christin, die den Gottesdienst regelmäßig besuchte und das Leben und Werk des Apostels Paulus bewunderte. Eckhard Hieronymus nahm den Nachweis mit der arischen Asymptote ernst.

Bei der Militanz und den antisemitischen Ausschreitungen bereitete ihm diese Anordnung Kopfzerbrechen in Bezug auf seine Frau und seine Kinder. Er beschrieb diesen Nachweis Luise Agnes gegenüber als die arische Asymptote und das geforderte Muss als eine eklatante Verletzung menschlicher Grundwerte und Grundrechte, weil in dieser Anordnung die Beschneidung der Freiheit des Menschen in seiner persönlichen Entscheidung liege. Er nannte sie die gemeine Angelrute des gestiefelten Deutschen oder das gefährliche Netz des deutschen Pickels. Wussten doch beide von Fällen behördlicher Einmischung in das familiäre Leben, wo dem arischen Mann, wenn er seine berufliche Stellung behalten wolle, angeraten wurde, sich von seiner jüdischen Frau zu trennen.

Nun war Luise Agnes nur eine Halbjüdin, und das arische “Defizit” war ihrem Gesicht, der feinen Nase mit dem leicht gebogenen Nasensteg, dem gekräuselten dunklen Haar und den tiefbraunen Augen anzusehen. Eckhard Hieronymus machte sich deshalb Sorgen um die Familie, weil er es bei dem Rassenwahn nur für eine Frage der Zeit hielt, dass er von Braunhemden oder den Gestapoleuten in den schwarzen Ledermänteln besucht würde, um ihn auf die beruflichen Konsequenzen hinzuweisen, deren Ursache das Zusammenleben mit einer Halbjüdin als Ehefrau ist.

Doch trennen wollte er sich von Luise Agnes nicht, die er über alles liebte, die eine so liebevolle Mutter der gemeinsamen Kinder Anna Friederike und Paul Gerhard war. Sorgen machte er sich auch um seine Kinder, wenn sie von ihren Schulkameraden auf die arischen Nachweise angesprochen würden, was sie bislang noch nicht wurden. Anna Friederike besuchte das Ursulinengymnasium, war in der Oberprima und zählte zu den Besten. Paul Gerhard ging zum städtischen Humboldtgymnasium und war in der Obersekunda beim besseren Durchschnitt. Beide waren groß gewachsen und hatten die mütterlichen Gesichtszüge, Paul Gerhard das dunkle gekräuselte Haar dazu. So war es auch für sie eine Frage der Zeit, auf ihre Herkunft angesprochen zu werden, besonders dann, wenn Dinge wie Missgunst und Neid bei den Mitschülern aufkamen, denn die Dorfbrunners waren nicht nur aufgeweckt und intelligent, sondern auch gut aussehende junge Menschen.

Die Schikanen mehrten sich: Juden hatten den gelben Judenstern auf den Straßen zu tragen. Ihnen war der Besuch von Konz