: Franziska Tschinderle
: Albanien Aus der Isolation in eine europäische Zukunft
: Czernin Verlag
: 9783707607635
: 1
: CHF 18.00
:
: Regional- und Ländergeschichte
: German
: 240
: Wasserzeichen
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB
Partisanenstatuen neben Werbeplakaten, Moscheen neben Kirchen, Wahlkampf im Fußballstadion und Flu?chtlingslager mit Swimmingpool: Die Journalistin Franziska Tschinderle zeigt in ihren Reportagen u?ber Albanien den Weg des Landes aus der Selbstisolation und stalinistischen Diktatur unter Enver Hoxha hin zu einer jungen Demokratie in Europa. Kaum ein anderes Land in Europa hat sich in ju?ngster Zeit so radikal gewandelt wie Albanien. Fast ein halbes Jahrhundert war es vom Rest der Welt isoliert. Religionen, Reisen und Rockmusik waren verboten, Stalins Lehre hingegen Pflicht. Heute sind Straßen nach US-Präsidenten benannt und Albanien ist EU-Beitrittskandidat.  ; Vor 30 Jahren brach die kommunistische Diktatur zusammen, nun zieht Franziska Tschinderle Bilanz und findet Antworten auf zentrale Fragen: Wie sieht das Albanien von heute aus? Wer bestimmt das politische Geschehen? Und warum wollen so viele junge Menschen von dort wegziehen, wo doch der Tourismus zu wachsen beginnt?

Franziska Tschinderle, geboren 1994 in Villach, studierte Journalismus und Zeitgeschichte in Wien. Sie arbeitet als Journalistin mit dem Schwerpunkt Su?dosteuropa. Ihre Reportagen aus Kosovo, Serbien, Albanien sowie anderen Ländern dieser Region sind u. a. in der »ZEIT«, »Le Monde Diplomatique« sowie bei »Ö1« erschienen. Tschinderle lebt als Korrespondentin in Tirana und ist unter anderem für das Auslandsressort des österreichischen Nachrichtenmagazins »profil« tätig.

KAPITEL 2


EIN DRITTES MAL EDI RAMA


Als Basketballspieler war er Teamplayer, als Künstler debattenfreudig. Jetzt, bei Antritt seiner dritten Amtszeit als Albaniens Ministerpräsident, muss sich Edi Rama der Frage stellen: Hat er als Politiker beides verlernt?

Edi Rama sieht nicht so aus, als hätte er Lust auf dieses Interview. Der zwei Meter große Mann ist tief in seinem Sessel und sein Smartphone versunken, eine runde Brille auf der Nase, vor ihm ein unaufgeräumter Schreibtisch voller Filzstifte. Seit der Corona-Pandemie ist das mit den Begrüßungsritualen so eine Sache. Menschen haben sich an den peinlichen Moment gewöhnt, an dem man sich uneins ist, wie man einander Hallo sagen soll. Mit Händedruck? Mit Ghetto-Faust? Mit Ellbogen? Mit einer verkrampften Verbeugung? Bei Rama muss man sich darüber keine Gedanken machen. Er bleibt sitzen und steht gar nicht erst auf. Kein Smalltalk, keine Begrüßungsworte, einfach nur Schweigen.

Menschen, die mit Rama arbeiten, erzählen, dass Albaniens Ministerpräsident ein sehr launischer Mensch sei, abhängig von seiner Tagesstimmung. »Es war neun Uhr am Morgen und da kam dieser super aufgelegte Typ zur Tür rein«, sagt jemand, der Rama kürzlich für Gespräche getroffen hat, »wir waren überrascht, wie freundlich, aufmerksam und gut vorbereitet er war. Ich wusste ja, dass er auch ganz anders kann.« Rama hat gute und schlechte Tage. Heute, so scheint mir, ist ein schlechter Tag.

Vielleicht schweigt Rama so penetrant, damit ich Zeit habe, sein Büro auf mich wirken zu lassen. Es ist fünf Uhr nachmittags und die Jalousien sind vollständig heruntergezogen. Im Eck steht ein Kleiderständer voller bunter Krawatten, manche davon mit knalligen Motiven bedruckt. Die Wände sind – vom Boden bis zur Decke – mit Ramas Malereien bedeckt: Zeichnungen aus feinen Filzstiftstrichen, die an bunte Organe aus einem Biologielehrbuch erinnern. Im Vorraum hängt ein Basketballkorb, im Flur steht ein Käfig mit zwei grauen Papageien namens Pipu und Lulu. Wenn sie kreischen, klingt es, als würde im Haus der