1. Kapitel
Sonja Schadt war um fünf Uhr aufgestanden. Je älter sie wurde, desto früher zog es sie aus dem Bett. Und auch wenn sie viel weniger schlief als früher, hatte sie das Gefühl, dass die Stunden des Tages gar nicht ausreichten, um all die Dinge zu tun, die sie so sehr liebte. Der Morgen begann stets mit einer großen Kanne Kaffee. Dabei las sie die Zeitung.
An diesem Tag, einem Donnerstag, Anfang Oktober 1994 fiel Sonjas Blick auf die SchlagzeileADLON OBLIGE – BERLIN BAUT DAS NOBELHOTEL WIEDER AUF. Die Reste des alten Gebäudes waren zehn Jahre zuvor gesprengt worden. Da stand die Berliner Mauer noch, und die Stadt war in Ost und West geteilt. Heute gab es gegenüber vom Brandenburger Tor neben der Akademie der Künste nur noch eine Wüste aus Schutt und Geröll. Verblüfft zog Sonja die Zeitschrift zu sich heran und griff nach der Lupe, um das Foto, das unter der Schlagzeile abgedruckt war, genauer zu betrachten. Ihr Vergrößerungsglas wanderte über die Gesichter der Gruppe, die sich zur Auftragsvergabe auf dem Pariser Platz zusammengefunden hatte. Neben der Berliner Baustadträtin stand der Regierende Bürgermeister, daneben die Star-Architekten Joachim Paarmann und Winfried Heller, selbstbewusste Männer um die fünfzig. Sonjas Vergrößerungsglas fing eine junge Frau ein, die am Rande des Bildes stand, als sei sie nur zufällig dabei und gehöre nicht wirklich dazu. Die Lupe der alten Dame hob das Gesicht der Jüngeren deutlicher hervor. Sonja las den Namen. Einmal – und ein zweites Mal.
Katharina Zimmermann lief eilig über den Pariser Platz und sah Paarmann und Heller, ihre Chefs, Matthias Seifert, den Bauleiter, und die beiden Arbeiter der Wasserwirtschaft am stillgelegten Springbrunnen warten.
»Tut mir leid, Stau!«, murmelte sie verlegen und war froh, dass keine weiteren Fragen oder Beschwerden folgten.
»Sie können loslegen«, sagte Paarmann zu den beiden Arbeitern. Er war ein Hüne, in dessen dunkler Künstlermähne sich graue Strähnen breitmachten. Im Gespann mit seinem Architektenkollegen Winfried Heller, einem gut aussehenden Endfünfziger, gab er den Ton an.