: Gudrun Krämer
: Der Architekt des Islamismus Hasan al-Banna und die Muslimbrüder
: Verlag C.H.Beck
: 9783406781780
: Historische Bibliothek der Gerda Henkel Stiftung
: 1
: CHF 24.40
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: Biographien, Autobiographien
: German
: 529
: Wasserzeichen
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB
Der Gründer der Muslimbruderschaft Hasan al-Banna (1906 - 1949) zählt zu den bedeutendsten Vordenkern und Aktivisten des Islamismus. In seinem Kampf gegen Kolonialismus, christliche Mission und Verwestlichung verknüpfte er nicht nur islamische Tradtitionen mit europäischen Ideen der Selbsthilfe und Selbstermächtigung. Er übersetzte die Idee einer islamischen Reform und Erneuerung in organisiertes, praktisches Handeln. In ihrer glänzend geschriebenen Biographie führt Gudrun Krämer eine islamische Moderne vor Augen, die bislang weithin verkannt wurde. Die Muslimbrüder gehören seit ihrer Gründung im Jahr 1928 zu den einflussreichsten islamischen Bewegungen der Gegenwart, auf die sich islamische Aktivisten von der palästinensischen Hamas bis zur türkischen AKP beziehen. Auf der Grundlage vielfältiger, bislang kaum ausgeschöpfter arabischer Quellen zeigt Gudrun Krämer, wie Hasan al-Banna aus einem sufisch inspirierten Bildungs- und Wohltätigkeitsverein eine Massenorganisation mit Hunderttausenden von Anhängern schuf, die unter Berufung auf die Religion Politik machte. Neben einem eigenen Zweig der Muslimschwestern entstand im Schatten des Zweiten Weltkriegs auch ein Geheimapparat. Ende 1948 wurde die Muslimbruderschaft verboten, wenig später fiel al-Banna einem Attentat zum Opfer. Noch heute dient er nicht-jihadistischen Islamisten als Referenz. Gudrun Krämer erhellt die ideengeschichtlichen Grundlagen, das soziale Umfeld und den politischen Kontext der Bewegung, porträtiert Mitstreiter und Gegner und erschließt anhand der Biographie Hasan al-Bannas eindrucksvoll ein Schlüsselkapitel in der Geschichte des modernen Islam.

Gudrun Krämer war bis zu ihrem Ruhestand Professorin für Islamwissenschaft an der Freien Universität Berlin und Direktorin der Berlin Graduate School Muslim Cultures and Societies. Sie ist Mitglied der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, des Wissenschaftsrats und Mitherausgeberin der Encyclopaedia of Islam Three. 2010 wurde sie mit dem Gerda Henkel Preis ausgezeichnet. Bei C.H.Beck erschienen von ihr u.a. die Standardwerke"Geschichte Palästinas" (2015) und"Geschichte des Islam" (Neuausgabe in Vorbereitung).

2. Die Zeit der Orientierung


Brüche und Übergänge


Al-Banna war noch keine 17 Jahre alt, als er 1923 das Lehrerseminar von Damanhur erfolgreich abschloss. Schon einige Monate zuvor hatte er sich über seinen weiteren Lebensweg Gedanken gemacht und dabei einen seltenen Moment der Unsicherheit erlebt: Eine Reihe seiner Mitschüler plante, ihr Studium am Kairener Dar al-ʿUlum fortzusetzen, einer Art Pädagogischer Hochschule für Arabischlehrer an staatlichen und privaten Grundschulen. Al-Banna war indes unschlüssig: Er las und lernte gerne, profitierte dabei von der Bibliothek des Vaters und Scheich Zahrans, kaufte das eine oder andere und lieh sich ansonsten die Bücher und Zeitschriften aus, die ihn interessierten. Insbesondere liebte er die klassische arabische Dichtung und Prosaliteratur, die zwar weithin geschätzt, an der Azhar und ihren Religiösen Instituten aber allenfalls außerhalb des regulären Unterrichts gelehrt wurden. Nach dem Vorbild Scheich Zahrans wollte er sogar eine eigene Monatszeitschriftash-Shams («Die Sonne») herausgeben, für die er tatsächlich zwei Hefte verfasst zu haben scheint.[1] Mit diesen Interessen stand al-Banna keineswegs allein: Die Lesefreude, ja der Lesehunger seiner Zeitgenossen sind vielfach bezeugt, und wer in Ägypten schreiben konnte, der schrieb.[2] Allerdings hatte der junge Mann mit seinen Scheichs und Lehrern auch Ausschnitte aus al-Ghazalis «Wiederbelebung der religiösen Wissenschaften» gelesen, wo der große Gelehrte zwischen nützlichem und unnützem Wissen unterschied: Nützlich war alles, was zur korrekten Ausübung der religiösen Pflichten und zum Broterwerb befähigte, der Rest war unnütz. Al-Banna verstand al-Ghazali dahingehend, dass zu viel Wissen sogar schade, und zwar nicht, weil es den Weg zur Wahrheit versperrte, wie inspirierte Sufis glaubten, sondern weil es vom Handeln abhielt. Zugleich drängte al-Ghazali, wie so viele fromme Muslime vor und nach ihm, auf einen sorgsamen Umgang mit der Zeit.[3] Auch die sunnitischen Reformer stellten angewandtes, praktisches Wissen über bloßes Bücherwissen, und sie taten dies nicht allein unter dem Einfluss französischer Saint-Simonisten und angelsächsischer Utilitari