: Sascha Friesike, Johanna Sprondel
: Träge Transformation. Welche Denkfehler den digitalen Wandel blockieren [Was bedeutet das alles?] - Friesike, Sascha; Sprondel, Johanna - 14188
: Reclam Verlag
: 9783159619682
: Reclams Universal-Bibliothek
: 1
: CHF 4.80
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: Philosophie: Antike bis Gegenwart
: German
: 92
: Wasserzeichen
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB
Deutschland investiert Milliarden in prestigeträchtige Leuchtturmprojekte und Pseudo-Veränderungen - und ist trotzdem digital weit abgeschlagen. Das liegt auch daran, dass Digitalisierung nicht als Transformation verstanden wird: Es geht eben nicht darum, Gegenstände oder Strukturen einfach ins Digitale zu überführen. Transformationsprozesse müssen die Gegenstände und Strukturen selbst hinterfragen und wandlungsfähig sein. Und selbst da, wo man dies erkannt hat, verhindern Missverständnisse die Entwicklung. Digitale Transformation ist ein komplexer Vorgang, der nicht dann abrupt endet, wenn irgendein neuer Dienst eingeführt wurde. Dieser Essay stellt heraus, dass isolierte Blicke auf Gesellschaft oder Technik nicht zielführend sind, und entlarvt dabei stets bemühte Buzzwords und die wichtigsten Denkfehler.

Sascha Friesike , geb. 1983, ist Professor für Design digitaler Innovationen an der Universität der Künste Berlin und Direktor des Weizenbaum-Instituts für die vernetzte Gesellschaft. An der Universität der Künste leitet er den Studiengang Leadership in Digitaler Innovation. Friesike ist Wirtschaftsingenieur und hat an der Universität St. Gallen promoviert. In seiner Forschung beschäftigt er sich damit, welche Rolle das Digitale spielt, wenn etwas Neues entsteht. Johanna Sprondel , geb. 1980, ist Professorin für Medien, Kommunikation und Marketing in Stuttgart. Sie wurde an der Universität Freiburg in Philosophie promoviert und arbeitete anschließend zu Praktiken und Theorien der Digitalisierung an der Stanford University. Seit 2010 forscht Sprondel zu der Frage, wie sich das Leben von Menschen und unsere Gesellschaft im Zuge der Digitalisierung verändern. Sie berät international Unternehmen in Transformationsprozessen.

»Am Anfang steht die Vision«


Wer schon mal an einer Führungskräftetagung unter dem Motto »digitale Transformation« teilgenommen hat, ist möglicherweise über eine Kreativitätsmethode gestolpert, die man »Moonshot Thinking« nennt. Moonshot Thinking verdankt seinen Namen demUS-amerikanischen Apollo-Programm, dem in wenigen Jahren das Unglaubliche gelungen ist, einen Menschen auf dem Mond abzusetzen und heil wieder auf die Erde zurückzubringen

Entsprechend mutig und innovationsfreudig soll die Methode das Denken in inkrementellen (also schrittweisen) Verbesserungen aufbrechen und dazu animieren, große Visionen zu ersinnen. Es geht um die radikale Abkehr vom Tagesgeschäft, wenn man so mag. Wie würde unsere Organisation aussehen, wenn die digitale Transformation keine zehnprozentige Verbesserung bedeuten würde, sondern wir uns absolut gesehen um den Faktor zehn verbessern könnten? Mit diesem Arbeitsauftrag machen sich gestandene Managerinnen und Manager dann ans Werk und entwickeln – üblicherweise unter hohem Zeitdruck – bunte Poster, die die Organisation von Morgen zumindest in Grundzügen skizzieren sollen.

Der Vorteil der Methode besteht darin, dass die Tätigkeit sehr kurzweilig ist und es keine falsche Lösung gibt, ja: dass es gar keine falsche Lösung geben kann. Wer darüber nachdenkt, wie eine Organisation aussehen könnte, die wenig mit der heutigen Organisation zu tun hat, genießt einen so hohen Grad an Freiheit, dass festgehalten werden kann, was immer man will. Sind die Ergebnisse besonders abwegig, so wird von der Moderation darauf hingewiesen, dass dies gar nicht schlimm sei, sondern dass es ganz im Gegenteil eben einer neuen Fehlerkultur bedürfe, die endlich auch einmal unorthodoxe Ideen fördere.

Die Methode entwickelt meist eine verblüffende Eigendynamik, die den Teilnehmenden selbst nicht immer ersichtlich ist. Ist man indes Zaungast bei mehreren solcher Führungskräftetagungen von ganz unterschiedlichen Organisationen, so fällt auf, dass sich die entwickelten Moonshots erstaunlich ähnlich sind. Vor ein paar Jahren, als »Big Data« das Schlagwort der Stunde war, sahen die Moonshots gerne vor, dass man sich von der heutigen Organisationsform lösen müsse, um sich hin zu einem »Data Analytics Provider« zu wandeln, der dann die Datengrundlage für eine ganze Branche legen könnte.

Als die »Plattformisierung« zum Mode- bzw. Buzzword avancierte, zeigten die Ergebnisse der Moonshot-Poster zweiseitige Märkte. Geschäftsmodelle also, bei denen Anbieter mit Kunden vernetzt werden. Airbnb, Uber oder YouTube lieferten hierfür erfolgreiche Beispiele, die dann auf jede erdenkliche Branche übertragen wurden.

Im Zuge der aktuellen Renaissance der künstlichen Intelligenz steht nun natürlich ebendiese Technologie im Zentrum zukünftiger Geschäftsmodelle, die aus der Moonshot-Methode keimen.

Dabei wird die Moonshot-Methode typischerweise verwendet, um die zukünftige Entwicklung einer bestehenden Organisation auszuloten, doch beziehen sich die Ergebnisse fast nie auf die heutige Organisation – höchstens noch auf die Branche allgemein.

Die Managementforschung hat sich in den letzten Jahrzehnten viele Gedanken über Ressourcen gemacht – über materielle Ressourcen, wie den Zugang zu Rohstoffen, aber auch immaterielle Ressourcen, wie Wissen oder Fähigkeiten. Ein Verständnis von Organisationen, das besonders populär ist, versteht Organisationen als Einheiten, die die Ressourcen, die ihnen zur Verfügung stehen, besser einsetzen können als andere.

Dabei ist unumstritten, dass Organisationen ständigen Veränderungen unterworfen sind und dass gerade die Fähigkeit, Ressourcen dynamisch zu rekonfigurieren, sie wettbewerbsfähig macht. Eine gesunde Organisation arbeitet also in einem Jahr anders, als sie das heute tut. Sie reagiert auf Veränderungen oder ist selber Antriebsfeder für Veränderungen. Dieses Verständnis setzt voraus, dass Ressourcen und deren Nutzung kontinuierlich angepasst werden. Oder anders ausgedrückt: Bestimmte Praktiken müssen aktiv ›verlernt‹ werden, um sie aus der Organisation zu verdrängen, andere Fähigkeiten müssen erst noch entwickelt werden. Diese