: Ana Schnabl
: Meisterwerk
: Folio Verlag
: 9783990371282
: 1
: CHF 14.80
:
: Gegenwartsliteratur (ab 1945)
: German
: 208
: kein Kopierschutz
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB
Ein ungleiches Liebespaar in einem Land vor dem Zerfall: ein Roman um Wahrheit, Lüge und Selbstbehauptung. Adam ist ein Literaturprofessor an der Universität Ljubljana, der sich nach einem ersten literarischen Misserfolg vor zwanzig Jahren erneut an einem Roman versucht. Ana ist eine junge ambitionierte Verlagsredakteurin und zugleich Informantin des nationalen Sicherheitsdienstes. Sie erhält Adams Manuskript Das Meisterwerk zur Begutachtung. Im Laufe der gemeinsamen Arbeit am Text stürzen sich die Protagonisten, beide verheiratet, in eine intensive Liebesbeziehung. Während Adam sich in Dissidentenkreisen bewegt und für die Unabhängigkeit Sloweniens brennt, ist Ana hin- und Hergerissen zwischen ihren persönlichen Lebensentwürfen und dem Pakt mit der dunklen Seite des Systems. Schnabls eindringliches Psychogramm spielt vor dem Hintergrund der Katastrophe, auf die Jugoslawien nach Titos Tod zusteuert.

Ana Schnabl, 1985 in Slowenien geboren, ist Schriftstellerin, Journalistin und Literaturkritikerin. Sie beschäftigt sich mit der Frau in der Psychoanalyse. 2014 gewann sie den wichtigsten slowenischen Kurzgeschichtenwettbewerb. ; Bei Folio ist 2020 ihr viel beachteter Erzählband Grün wie ich dich liebe grün erschienen.

19. September 1985


Sie erwachte vor dem Hellwerden. Wenn sie getrunken hatte, konnte sie wegen des Adrenalinschubs nicht gut schlafen. Sie drehte sich auf die Seite, um die Übelkeit leichter in den Griff zu kriegen. Sie roch Boris’ Erkältung. Wie immer schlief er mit offenem Mund und atmete laut. Wie gewöhnlich hatte er sich mitten in der Nacht unhörbar in ihr Bett geschlichen und sich weich wie eine kleine Schlange an sie geschmiegt. Nie schmiegte er sich an Sergei, immer nur an sie. Obwohl Vater und Sohn im wachen Zustand gut miteinander harmonierten, vermied Boris die Berührung mit seinem Vater. Vielleicht war es das übliche Unbehagen eines Jungen, eine Art Verlegenheit neben dem größeren, breiteren und ausgeprägt männlichen Körper, aber oft dachte sie, dass Boris, ebenso wie sie, vor ihrer Ähnlichkeit erschrocken sein könnte. In der Regel sind Kinder das Echo der kindlichen Versionen ihrer Eltern, aber Boris war schon mit sieben Jahren eine kleine Ausgabe des erwachsenen Sergei: dunkles struppiges Haar, das sich weder kämmen noch formen ließ, hellblaue, für Momente erschreckend kalte Augen, eine scharfe Kurve zwischen Nase und Oberlippe, eckige Schultern, die den ansonsten durchschnittlich großen, aber kräftigen Körper größer erscheinen ließen. Boris hatte sogar Sergeis Gang geerbt, zusammen mit allen schrulligen Details. Mit dem komischen Schaukeln, wenn er es eilig hatte, und dem ungelenken Schlurfen, wenn er Sandalen tragen musste. Vermutlich, dachte sie, weckt übergroße Nähe bei Boris kein Vertrauen. Obwohl noch ein Kind, wollte er doch ein Original sein.