Long Barn, Weald, Kent, Anfang November 1922
Vita legte die Spitzen von Daumen und Zeigefinger aneinander, steckte sie in den Mund und pfiff. Sofort ließen ihre beiden Elchhunde, Canute und Freya, von der Jagd nach einem flüchtenden Reh ab und rannten auf sie zu.
»Keine Zeit für Vergnügungen heute. Ich muss schreiben«, erklärte sie den Hunden, die mit wedelnden Schwänzen vor ihr stehen blieben und sie erwartungsvoll ansahen. Mit weit ausgreifenden Schritten querte sie das Feld, das an ihren Landwohnsitz Long Barn angrenzte, Canute und Freya dicht an ihren Fersen.
Long Barn lag nur ein paar Meilen von ihrem geliebten Schloss Knole entfernt. Es war ein uraltes Haus, vermutlich älter noch als Knole, aber natürlich längst nicht so prachtvoll. Vita liebte es aufgrund seiner Abgeschiedenheit und seines ehrwürdigen Alters. Da Harold meist auf irgendeiner Mission in der Welt unterwegs war, lebte sie hier zum größten Teil allein mit den Hunden und dem Dienstpersonal. Manchmal bekam sie Besuch, meist von Dottie, der reichen Erbin des Earl of Scarborough, die leider etwas anstrengend war. Dottie, oder Dorothy, wie sie eigentlich hieß, betete sie an und versuchte immer wieder, Vita zu verführen. Doch so amüsant Dottie sein konnte, sexuell reizte die blonde, anämische Freundin Vita nicht genug, um eine Liaison mit ihr zu beginnen. Hätte Dottie damals während der Affäre mit Violet Trefusis nicht so unerschütterlich zu ihr gehalten, würden sie vermutlich längst getrennte Wege gehen. So aber gehörte Dottie inzwischen beinah zum festen Inventar ihres häuslich gewordenen Lebens als Schriftstellerin und Ehefrau des erfolgreichen Diplomaten Harold Nicolson. Des überwiegend abwesenden Diplomaten Harold Nicolson, um genau zu sein. Zurzeit weilte er gerade in Lausanne, bei irgendeiner Konferenz. Als Diplomatengattin gehörte sie eigentlich an seine Seite, doch wenn es etwas gab, das tiefer wurzelte als ihre Sehnsucht nach Harold, dann war es die Liebe zu dem Stückchen Erde, auf dem sie jetzt dahinschritt. Es gehörte nicht mehr zu den Ländereien Knoles und doch war es dieselbe Landschaft, der Wald, die Felder und das Gefühl grenzenloser Freiheit, das sie auf ihren Streifzügen durch die Gegend stets beflügelte. Harold wusste das und respektierte es – und dafür liebte sie ihn umso mehr.
Auf dem silbernen Tablett für die Post in der Halle lag ein Päckchen. Es war von Clive Bell. Sie hatte den charmanten und jovialen Bell bei einem Dinner in der Londoner Wohnung der Hutchinsons kennengelernt. Harold kannte St. John Hutchinson schon lange und schätzte ihn sehr, Vita jedoch mochte seine Ehefrau Mary deutlich lieber als den steifen St. John. Mary bewegte sich im Dunstkreis von Bloomsbury, was per se dafür sprach, dass sie keine dieser anstrengenden Politikergattinnen war, die den Sinn ihrer Existenz in der Förderung der Karriere ihres Mannes sahen. Mary Hutchinson umgab eine Aura des Geheimnisvollen, die Vita zu gerne erkundet hätte. Es war ihr nicht verborgen geblieben, dass Mary und Clive eine Affäre miteinander hatten, aber ihr Instinkt sagte Vita, dass Mary hinter ihrer schönen Fassade noch weitere Geheimnisse versteckt hielt.
Vita löste die Paketschnur und wickelte das Papier ab. Es war ein Buch.Jacobs Zimmer, las sie, von Virginia Woolf. Clive war ein großer Verehrer dieser Mrs Woolf und hatte sie beinahe genötigt, ihre Werke zu lesen. Vita hatte wenig Zeit zu erübrigen und für einen ganzen Roman von einer weitgehend unbekannten Schriftstellerin fehlte ihr die Geduld, also hatte sie die Kurzgeschichten gelesen, die in Mrs Woolfs eigenem Verlag erschienen waren. Sie fand sie rätselhaft, wenn auch von beeindruckender sprachlicher Schärfe. So hatte sie es Clive gegenüber formuliert, und er glaubte nun offenbar, sie sei eine Verehrerin der Woolf. Sie blätterte in dem Buch und ein Brief fiel zu Boden.
»Verehrte Mrs Nicolson,
ich möchte Ihnen die Lektüre dieses Romans meiner Schwägerin Virginia Woolf sehr ans Herz legen. Er ist gerade frisch erschienen und gehört, wie ich finde, unbedingt in Ihr Buchregal. Darf ich Ihnen darüber hinaus vorschlagen, zusammen mit Mr und Mrs Woolf am 4. Dezember in meinem Hause am Gordon Square zu dinieren? Mrs Woolf brennt darauf, Sie kennenzulernen.
Ergebenst
Ihr Clive Bell
Die Woolf wollte sie also kennenlernen. War das nun ein Grund zur Freude oder eher zum Fürchten? Laut Clive Bell war die Dame ein Genie, und Mary Hutchinson hatte Virginia Woolf als »die klügste Frau, die ich kenne« bezeichnet. Sie sei allerdings manchmal ein wenig verrückt. Vita hatte weder gegen verrückte noch gegen kluge Frauen etwas einzuwenden, aber hochintellektuelle Menschen schüchterten sie meist ein. Außerdem müsste sie bis zu dem Treffen mit ein paar klugen Gedanken zuJacobs Zimmer aufwarten, doch bis zum 4. Dezember blieb nicht mehr viel Zeit. Glücklicherweise war das Buch nicht so dick wie ihre eigenen Romane. Mit den Manuskriptseiten der Geschichten, die Vita in ihrem knapp dreißigjährigen Leben schon geschrieben hatte, könnte sie vermutlich sämtliche dreihundertfünfundsechzig Zimmer von Knole tapezieren. Das meiste davon war wertloses Zeug, Phantastereien über Prinzen und Prinzessinnen, leidenschaftliche Liebesabenteuer und höfische Intrigen. An guten Tagen konnte sie bis zu zwanzig Seiten schreiben, gefesselt von ihren Ideen, versetzt in eine bunt schillernde Welt fern ihrer eigenen. Doch nur ein Bruchteil von dem, was sie seit Jugendtagen geschrieben hatte, war veröffentlicht – und das war gut so. Sie schrieb jedoch auch Gedichte, für die sie sich weit weniger schämen musste. Immerhin wurden sie in renommierten Zeitschriften besprochen und hatten ihr zur Aufnahme in das Komitee desPEN-Clubs verholfen. Ob das helfen würde, ihr die Befangenheit gegenüber diesem Genie zu nehmen? Wohl kaum.
Sie griff nach einem Apfel und wanderte mit dem aufgeschlagenen Buch hinüber in ihr Arbeitszimmer. Die ersten Zeilen waren vielversprechend. Eine schreibende Frau, eine Bucht in Cornwall, grotesk verzerrt von einem Tränenschleier, ein Tintenklecks, der sich ausbreitet, so begann es. Eine eigentümliche Art, einen Roman zu beginnen, dachte Vita. Aber wieder war da in den wenigen Zeilen diese sprachliche Schärfe, die dargestellte Szene wie durch ein Brennglas betrachtet. Der Geist dieser Mrs Woolf musste ein besonderer sein, wenn er solche Sätze schuf.
Vita legte das Buch beiseite. Sie würde es später lesen, jetzt musste sie schreiben. Ihr Roman,Grey Weathers, stand kurz vor der Vollendung. Es war eine Dreiecksgeschichte, wie sie sie oft geschrieben hatte. Diesmal allerdings standen die Figuren ihr näher als üblich. Die Frauenfigur Clare war maskulin und mit einem Hang zum sinnlichen Abenteuer, Clares Ehemann ein Harold-Typ, kultiviert und mit ausgeprägten weiblichen Zügen, Clares verbotener Liebhaber ein Zigeunertyp. InGrey Weathers ließ Vita ihre Heldin das tun, was sie selbst mit Violet nicht gewagt hatte: fliehen und ihre verbotene Liebe ausleben.
Violet. Sie hatte angerufen. Sie sei in London, verzehre sich noch immer nach ihr. Zum Glück war Dottie in jenem kritischen Augenblick zur Stelle gewesen und hatte sie davor bewahrt, sich mit Violet zu treffen. Zu gefährlich. Noch zwei Jahre nach ihrem gescheiterten Fluchtversuch aus ihrem Leben als brave Ehefrau und dem vernichtenden Ende ihrer Affäre vermochte Violets Stimme Vitas Eingeweide in Aufruhr zu versetzen und Julian wiederzuerwecken. Sie hatte ihn längst tot geglaubt, doch seit diesem Anruf wusste sie: Julian war unzerstörbar.Grey Weathers sollte helfen, ihn unschädlich zu machen, indem sie ihn, in Tinte gelöst, auf viele Manuskriptseiten verteilte. Nur so konnte sie Harold die Ehefrau und ihren beiden Söhnen die Mutter sein, die sie sein wollte. Es war ein hartes Stück Arbeit, der einzige Weg zu überleben.
Vita schrieb...