Kapitel 2
Nachdem Emma sich während der ersten Wochen in Delhi an die unausgesprochene Übereinkunft gehalten hatte, so zu tun, als hätte man England nie verlassen, beschloss sie, das Land besser kennenzulernen. Allerdings fürchtete sich Lady Metcalfe, die Frau des Ministerresidenten und ihre Gastgeberin, vor der einheimischen Kultur und weigerte sich, den Basar zu betreten. »Ich könnte Ihnen doch etwas vorlesen«, hatte sie an diesem Morgen vorgeschlagen. »Ich habe eine neue Ausgabe von ›Des Pilgers Wanderschaft‹ da.«
Aber Emma konnte die Vorstellung nicht ertragen, wieder einen Tag in dem stickigen Haus herumzusitzen. Mama hätte ihr empfohlen, Besuche zu machen oder Lady Metcalfe auf ihrem Spaziergang durch den Maidan-Park und zu den Zusammenkünften ihres Nähkränzchens zu begleiten. Doch beim bloßen Gedanken daran fühlte sich Emma, als würde ihr die Luft abgeschnürt, und ihr wurde flau im Magen. So ging es nun schon seit ihrer Ankunft. Die aufdringliche Besorgnis ihrer neuen Bekannten raubte ihr den Atem, denn sie wusste nicht, was sie auf die Fragen antworten sollte, die aus ihren Blicken sprachen. Außerdem hatte sie zunehmend weniger Lust, es überhaupt zu versuchen. Deshalb hörte sie dem Geplauder nur mit halbem Ohr zu und verlor mitten im Gespräch den Faden, weil sie nicht mehr wusste, was sie hatte sagen wollen.
Marcus nahm sie in Schutz und erzählte seinen Freunden, sie müsse sich noch von der langen Reise, dem Schock und dem Verlust ihrer Eltern erholen. Selbstverständlich war das richtig, erklärte jedoch nicht ihre Ungeduld und Rastlosigkeit. Den Grund für ihre Gefühle bekam sie einfach nicht zu fassen, und ihr fiel auch keine Lösung ein. Natürlich war sie dankbar; es war wirklich ein Wunder, dass sie überlebt hatte. Aber sie konnte deshalb doch nicht den Rest ihres irdischen Daseins damit zubringen, sich über die hiesige Laienspielgruppe oder die Pferderennen der letzten Saison zu unterhalten.
Deshalb hatte Emma Lady Metcalfes Angebot höflich abgelehnt und zum Entsetzen ihrer Gastgeberin ihre Ayah, eine Hindufrau namens Usha, gebeten, sie ins Eingeborenenviertel zu begleiten. Als die Straßen in Chandni Chowk zu eng für die Kutsche wurden, erbot sich Usha, sie zu Fuß zu führen. Und so schlängelten sie sich nun durch das Menschengewühl auf der Straße, wobei Emma darauf achten musste, nicht auf Kuhdung oder die Tonscherben zerbrochener Teetassen zu treten. Rechts erhob sich ein Tempel aus weißem Marmor, in dem die Betenden dröhnende, an der Decke baumelnde Glocken läuteten. Rechts hasteten einige Frauen in bunten Saris im Gänsemarsch vorbei. Ihre schlanken braunen Arme stützten die Säcke auf ihren Köpfen. Armreifen und Fußkettchen mit Glöckchen daran funkelten in der Sonne.
Noch nie im Leben hatte Emma eine quirligere und buntere Szene gesehen. Die Aquarellfarben, die sie in Bombay gekauft hatte, hätten nicht gereicht, um sie auch nur annähernd einzufangen. Dazu hätte es üppiger, greller Ölfarben bedurft. Mit etwas Glück hatte ihre Cousine in London die bestellten Farben bereits abgeschickt. Ansonsten würde sie versuchen müssen, die bunten Farben aufzutreiben, wie man sie zum Bemalen der hübschen Schilder an den Hauswänden benutzte, zum Beispiel jenes über dem Laden, der Gefäße aus Messing im Angebot hatte. Es stellte einen Gott mit blauer Haut dar, der die Passanten mit seinen vielen Armen heranwinkte.
Emma seufzte auf. Marcus würde einen Wutanfall bekommen, wenn sie sich einheimische Farben beschaffte. Er stand ihrem »kleinen Steckenpferd« ohnehin ablehnend gegenüber. »Du zeichnest ausgesprochen unpassende Dinge«, hatte er am Vortag angemerkt, nachdem er ihr Skizzenbuch durchgeblättert und anschließend achtlos weggelegt hatte. Sie war klug genug gewesen, ihm nicht zu widersprechen. Blumen, ländliche Idylle, Kinder – das waren Themen, die sich für eine Dame schickten. Fakire, Mahouts und andere interessante Modelle waren den Herren vorbehalten, die wahre Kunstwerke, nicht nur schmückendes Beiwerk, schufen.