: Nicole Weis
: Elbe 511
: Europa Verlag GmbH& Co. KG
: 9783958904514
: 1
: CHF 14.10
:
: Gegenwartsliteratur (ab 1945)
: German
: 224
: Wasserzeichen
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB
Vor dem Mauerbau geht Wolfgang als 20-Jähriger mit seinem Freund über die innerdeutsche Grenze, um in Westdeutschland zu arbeiten. Acht Monate später kehrt er aus Heimweh zurück. Dies hat erhebliche Konsequenzen, die sein ganzes Leben prägen werden. Denn er wird von seinem Freund denunziert und wegen angeblicher Spionage zu vier Jahren Gefängnis in Bautzen verurteilt, wo er als politischer Häftling schlimmste Schikanen und Grausamkeiten erlebt. Nach der Entlassung darf Wolfgang nicht in seinem Heimatdorf leben und wird dadurch erneut seiner Freiheit beraubt. Erneut beschließt er zu fliehen und schwimmt bei Flusskilometer 511 über die Elbe. Im Westen baut er sich eine Existenz auf, heiratet und gründet eine Familie. Nach seinem Tod in der Schweiz macht sich die Tochter auf die Suche nach der verloren gegangenen Heimat. Sie besucht das Heimatdorf ihres Vaters, das Gefängnis in Bautzen und die eingezäunte Dorfrepublik an der Elbe am 511. Flusskilometer, wo für ihren Vater die persönliche Wende begann. Anhand der Fluchtgeschichte ihres Vaters rekonstruiert die Autorin auf brillante Weise die jüngere deutsche Geschichte und spannt dabei einen Bogen vom Ende des Zweiten Weltkrieges bis zum Fall der Mauer und in die Gegenwart. Dabei wird auch deutlich, was es für den Einzelnen bedeutet, sich zur Flucht zu entschließen, und welche Auswirkungen eine solche Entscheidung auf die hat, die gehen, und auf jene, die bleiben.

Nicole Weis, geboren 1970, studierte Medizin in Hamburg und promovierte an der Universitätsklinik Tübingen. Neben ihrer Tätigkeit als Ärztin im Bereich Naturheilkunde in der Onkologie (Krebsmedizin) ist sie seit 2004 Redakteurin der 'Deutschen Zeitschrift für Onkologie'. Seit ihrem zwölften Lebensjahr schreibt sie Romane, Erzählungen und Gedichte.

DER GEFRIERSCHRANK DER HERZEN


Wolfgangs Herz lag in einem Gefrierschrank, zusammen mit denen der anderen Häftlinge. Er stellte sich vor, wie sie sortiert nebeneinanderlagen. Jedes Herz hatte eine Nummer. Die Nummer, die jedem am Anfang der Untersuchungshaft zugeteilt worden war. Sein Herz mit der Nummer 392 lag in der Mitte ganz vorne im Gefrierschrank. Wie die anderen pulsierte es noch unter einer Schicht aus dünnem Eis. Es schimmerte leicht rosa. Die Blutgefäße verästelten sich, und es schien, als ob die Venen und Arterien auch eine Verbindung zu den anderen Herzen im Gefrierschrank hatten. Das Blut strömte eiskalt durch alle hindurch. Auch wenn sie ihm seinen Willen herausreißen und brechen konnten. Mit seinem Herzen schafften sie es nicht, sosehr sie sich auch bemühten.

Wenn es besonders schlimm war, stellte sich Wolfgang sein Herz im Gefrierschrank vor und wie unversehrt es war. Diese Vorstellung, dass es für die kommenden Jahre tiefgefroren dort lag, beruhigte ihn. Er wusste, dass er es wieder auftauen konnte, wenn die Zeit gekommen war. Er hatte noch keine Vorstellung, wann das sein würde. Ob in wenigen Jahren, einer halben Ewigkeit oder in einer Zeitspanne, die nur ein lächerlicher Bruchteil seines Lebens sein würde.

Letztendlich wusste er nichts von diesem Staat und traute dessen Dienern nun doch alles zu. Die Schläge und Misshandlungen hallten noch lange nach, auch wenn sie nicht bis zu seinem Herzen vorgedrungen waren. Wolfgangs Körper war es, der stellvertretend alles Leid in sich aufnahm und einsaugte.

Nach den ersten Verhören konnte er noch stundenlang auf der weißen Linie stehen bleiben, ohne einzuschlafen. Später täuschte er die Wachheit nur vor, wenn im halbstündigen Rhythmus der Wärter an seiner Zelle vorbeikam. Er war dann eine Katze, die mit nur einer Gehirnhälfte schlief.

Irgendwann schaffte er auch das nicht mehr. Von einem Moment auf den anderen klappte er wie ein Taschenmesser in sich zusammen und blieb, ohne sich abzufangen, auf dem Boden liegen. Wenn er Glück hatte, konnte er eine halbe Stunde schlafen. Spätestens dann brüllte ihn der Wärter von draußen an:392, aufstehen! Und wenn Wolfgang nicht reagierte, schloss er die Zelle auf, kam herein und richtete ihn mit einem Schlag auf den Rücken wieder auf.

Warum kamen Sie in die Deutsche Demokratische Republik?

Ich kam zurück, um für immer hierzubleiben und wieder zu meiner Mutter zurückzukehren.

Ihre Aussagen sind unglaubwürdig. Sagen Sie wahrheitsgetreu über die Gründe Ihrer Fahrt in die Deutsche Demokratische Republik aus!

Ich verfolgt