: Rabindranath Tagore
: mehrbuch Verlag
: Persönlichkeit
: neobooks Self-Publishing
: 9783754184417
: 1
: CHF 1.80
:
: Spiritualität
: German
: 156
: kein Kopierschutz
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB
'Doch es ist noch ein drittes Ich in mir neben dem physischen und geistigen, das seelische Ich. Dies Ich hat seine Neigungen und Abneigungen und sucht etwas, das sein Bedürfnis nach Liebe erfüllt. Dies seelische Ich gehört der Sphäre an, wo wir frei sind von aller Notwendigkeit, wo die Bedürfnisse des Körpers und des Geistes keinen Einfluß haben, wo nach Nutzen oder Zweck nicht gefragt wird. Dies seelische Ich ist das Höchste im Menschen. Es hat seine eigenen persönlichen Beziehungen zu der großen Welt und sucht persönliche Befriedigung in ihr.'

Rabindranath Tagore bzw. war ein indischer Philosoph, bengalischer Dichter, Maler, Komponist, Musiker und Brahmo-Samaj-Anhänger. Tagore erhielt 1913 den Nobelpreis für Literatur und war damit der erste asiatische Nobelpreisträger.

1




Doch mit der Naturwissenschaft ist es anders. Denn sie versucht, jene zentrale Persönlichkeit ganz auszuschalten, durch die die Welt erst eine Welt wird. Die Naturwissenschaft stellt einen unpersönlichen und unveränderlichen Maßstab für Raum und Zeit auf, der nicht der Maßstab der Schöpfung ist. Daher wirkt seine Berührung so vernichtend auf die lebendige Wirklichkeit der Welt, daß sie zu einem leeren Begriff wird und ihre Dinge sich in Nichts auflösen. Denn die Welt ist etwas anderes als Atome und Moleküle oder Radioaktivität und andere Kräfte, der Diamant ist etwas anderes als Kohlenstoff, und Licht ist etwas anderes als Schwingungen des Äthers. Auf dem Wege der Auflösung und Zerstörung wird man nie zur Wahrheit der Schöpfung gelangen. Nicht nur die Welt, sondern Gott selbst wird von der Naturwissenschaft seiner Wirklichkeit entkleidet; sie unterwirft ihn im Laboratorium der Vernunft, wo jede persönliche Beziehung aufhört, einer chemischen Analyse und verkündet als Resultat, daß man nichts von ihm weiß noch wissen kann. Es ist eine bloße Tautologie, zu behaupten, daß Gott unerkennbar ist, wenn man den, der ihn allein kennt und kennen kann, die menschliche Persönlichkeit, ganz außer Betracht läßt. Es ist, als ob man von einer Speise sagte, sie sei ungenießbar, wenn niemand da ist, sie zu essen. Unsre trocknen Moralisten machen es ebenso, sie lenken unser Herz von dem Ziel seiner Sehnsucht ab. Statt uns eine Welt zu erschaffen, in der die sittlichen Ideale in ihrer natürlichen Schönheit leben, versuchen sie, unsre Welt, die wir uns, wenn auch noch so unvollkommen, selbst erbaut haben, zu verkümmern. Statt menschlicher Persönlichkeiten stellen sich moralische Grundsätze vor uns auf und zeigen uns die Dinge im Zustande der Auflösung, um zu beweisen, daß hinter ihrer Erscheinung abscheulicher Trug ist. Aber wenn man die Wahrheit ihrer äußern Erscheinung beraubt, so verliert sie damit den besten Teil ihrer Wirklichkeit. Denn die Erscheinung ist es, durch die sie zu mir in persönlicher Beziehung steht, sie ist eigens für mich da. Von dieser Erscheinung, die nur Oberfläche zu sein scheint, die aber von dem innern Wesen Botschaft bringt, sagt euer Dichter:

Der erste Schritt schon brachte mir soviel Freude!

Das bloße Bewußtsein, all diese Formen, die Kraft der Bewegung,

Das kleinste Insekt oder Tier, die Sinne, das Schauen, die Liebe —

Was brachte der erste Schritt schon an Staunen und Freude!

Ich bin noch nicht weiter gegangen und möcht' es auch kaum,

Ich möchte nur immer verweilen und in ekstatischen Liedern lobpreisen!

Unsre wissenschaftliche Welt ist unsre Welt des Verstandes. Sie hat ihre Größe und ihren Nutzen und ihre Reize. Wir wollen ihr gern die ihr gebührende Huldigung erweisen. Aber wenn sie sich rühmt, die wirkliche Welt erst für uns entdeckt zu haben und über alle Welten der einfältigen Geister lacht, dann erscheint sie uns wie ein Feldherr, der, durch seine Macht berauscht, den Thron seines Königs usurpiert. Denn die Welt in ihrer lebendigen Wirklichkeit ist das Reich der menschlichen Persönlichkeit und nicht des Verstande