: Ursula Knoll
: Lektionen in Dunkler Materie
: Edition Atelier
: 9783990650738
: 1
: CHF 15.20
:
: Gegenwartsliteratur (ab 1945)
: German
: 248
: Wasserzeichen
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB
Wenn Menschen scheinbar aus dem Nichts ausflippen, steckt manchmal ganz schön viel dahinter. Bei Ines Geiger etwa, die aus Frust auf ihren Arbeitsalltag nur noch positive Asylbescheide ausstellt. Bei Heide, die mit ihrem kleinen Sohn den Kindergarten besetzt, weil die Öffnungszeiten für eine Alleinerzieherin ein Witz sind. Oder bei ihrer Exfrau, der Astronautin Katalin, die angesichts einer sturen KI in ihrer winzigen Kabine auf der Raumstation ISS rabiat wird, während die Aktivistin Milka aus Protest gegen die Arbeitsbedingungen in der Lebensmittelindustrie im Supermarkt mit Tomaten um sich wirft. Sie alle wollen etwas verändern, für sich persönlich oder im Großen. Ihnen allen wurden Steine in den Weg gelegt, die manchmal nur mit Gebrüll aus dem Weg gesprengt werden können. Ursula Knoll zeigt in ihrem Debütroman eindrucksvoll, wie wir mit der Erde, dem ewig ungerechten Geschlechterverhältnis und schließlich mit uns selbst umgehen.

Ursula Knoll, 1981 in Wien geboren. Studium der Germanistik, Judaistik und Romanistik in Wien, Bishkek, Washington DC und Prag. Ausbildung zur Dramatikerin am Burgtheater Wien und bei den wiener wortstaetten. Literaturwissenschaftliche Promotion über NS-Täter*innenschaft. 2009 Thomas-Bernhard-Stipendium für Dramatisches Schreiben. 2010 Raul-Hilberg-PhD-Stipendium. 2021 Stipendiatin beim kollaborativen Dramatiker*innen-Programm Tour des Textes. Ihr Roman »Lektionen in Dunkler Materie« wurde mit dem Bloggerpreis Das Debüt 2022 ausgezeichnet.

GEIGERZÄHLER


Kevin, Lorin und Mike haben sich über Wien gelegt, Ortwin kündigt sich an. Sie unterscheiden sich kaum in ihrer Penetranz, über Mitteleuropa hat sich ein sommerliches Hochdrucksystem festgesetzt, das die Stadt zum Kochen bringt.

Die ausschließlich männlichen oder weiblichen Namen der Hochs eines Jahres können im Herbst des Vorjahres beantragt werden, die Patenschaften gehen weg wie warme Semmeln. Jeden Tag beantwortet die Mitarbeiterin am Meteorologischen Institut am Carl-Heinrich-Becker-Weg in Berlin freundlich weitere Anfragen mit dem Verweis, sich doch auf die Warteliste für das übernächste Jahr setzen zu lassen. Sie könne sich das große Interesse auch kaum erklären, ein paar der Tiefs hingegen seien noch offen, nach Nadine, Oriana, Pamela und Roswitha zum Beispiel, in diesem Fall natürlich dann weiblich, ob das etwas ausmache? Allerdings baue sich der Temperaturüberschuss nur langsam ab, das Wetter sei mit durchschnittlich 4,8 Grad zu warm, auch hier sei die Warteliste ratsam.

Es fehlt an Niederschlag, die Felder liegen gelblichbraun in der Landschaft, im Radio wird über die Ernteausfälle diskutiert. Ein Jungbauer tippt auf das Display, gleichmäßiger Technobeat ersetzt die aufgeregten Stimmen und lässt die Scheiben leicht vibrieren. Er ist mit seinen Gedanken ganz woanders, im Rückspiegel verschwindet die Ortschaft Gols im aufgewirbelten Staub. Sein vollklimatisierter Traktor schneidet Schneisen in das vertrocknete Maisfeld, ein paar Rehe springen aufgescheucht hoch.

Vor dem Serralves-Museum in Porto steht ein Rettungswagen mit Blaulicht. Zwei Sanitäterinnen laufen mit einer Trage durch die Ausstellungsräume. Eine junge Frau, die die Aufsicht hat, zeigt ihnen den Weg. Man weiß nicht, warum der Mann die Warnschilder nicht ernst genommen hat, sagt sie hastig. So etwas sei noch nicht vorgekommen. Drei Kollegen von der Feuerwehr hätten sich schon in das zwei Meter vierzig tiefe Loch der Installation abgeseilt, es sei also alles zur Bergung bereit. Der Besucher sei anscheinend davon ausgegangen, dass es si