: Andreas Jungwirth
: Im Atlas
: Edition Atelier
: 9783990650721
: 1
: CHF 16.10
:
: Gegenwartsliteratur (ab 1945)
: German
: 296
: Wasserzeichen
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB
Diesen Urlaub haben David und Stefan dringend nötig. Acht Tage Marokko, von Marrakesch in die Wüste - um dort den einzigartigen Nachthimmel zu sehen. Doch die Reise steht schon vor Beginn unter keinem guten Stern. Einen Tag vor dem Abflug geht ein Video von der Ermordung zweier Däninnen im Touristenort Imhil viral. Stefan will den Flug stornieren. Aber David, der sich von den Bildern auf seltsame Weise angezogen fühlt, überredet ihn, die Reise anzutreten. In Marokko bleibt die Stimmung angespannt. Sie sind sich uneinig, ob sie ihre Beziehung hier offen zeigen sollen, und ihr Fahrer Kalifa erscheint ihnen von Tag zu Tag rätselhafter. Als er David und Stefan im Hohen Atlas auf der Straße sitzen lässt, wandern sie wohl oder übel zum nächstgelegenen Ort: ausgerechnet nach Imhil ... Andreas Jungwirth führt uns in seinem Reiseroman versiert und zielsicher auf die abseitigen, unbetretenen Pfade - zu einer Beziehung, zur Konfrontation mit der eigenen Vergangenheit und schließlich über die Grenzen des Erwartbaren.

Andreas Jungwirth, 1967 in Linz geboren, lebt nach langer Zeit in Berlin wieder in Wien. Studierte in Wien Germanistik und Theaterwissenschaft sowie am Konservatorium Schauspiel. Neben seiner schriftstellerischen Tätigkeit (Theater, Hörspiel) arbeitet er als Hörspielregisseur und moderiert Publikumsveranstaltungen für Ö1 (»Hörspielgala«, »radiophone Werkstatt«). Zuletzt erschienen die Jugendromane »Kein einziges Wort« (2014, Ravensburger Buchverlag) und »Schwebezustand« (2017, CBT) sowie in der Edition Atelier seine Erzählung »Wir haben keinen Kontakt mehr« (2019).

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David stand nackt vor dem Spiegel und betrachtete sich, als wäre er ein Fremder.

Was es zu sehen gab?

Den geraden Mund. Die Unterlippe etwas voller als die Oberlippe. Einen schlanken Hals. Unter dem Kehlkopf die verblasste Narbe einer Schilddrüsenoperation, da war er Ende zwanzig gewesen. Schultern, die, wie oft bei großen Menschen, leicht nach vorne fielen. Graue Haarbüschel, darin versteckte Brustwarzen, klein und fest. Fettpolster da und dort. Der Nabel tief im Bauch. Ein passabler Schwanz. Kräftige Oberschenkel. Für seine Größe überraschend kleine Füße. Insgesamt Durchschnitt. Kein Grund, sich für irgendetwas zu schämen, nicht in seinem Alter.

Als Fünfzehnjähriger war er ein schneller und wendiger Schwimmer gewesen. Hätte er konsequent trainiert, dachte David, während er sich weiter von oben bis unten musterte, hätte er es tatsächlich zu etwas bringen können. Jedenfalls war das die Ansicht seines Sportlehrers gewesen. Aber weshalb dieses Bedauern? – Verpasste sportliche Erfolge ließen sich dreißig Jahre später ohnehin nicht mehr nachholen. Und in seiner Jugend? Damals hatte es ihm an Ehrgeiz gefehlt. Wozu sich täglich schinden? Jeden Tag mehrere Stunden im Wasser. Sicher nicht!

David hob seinen Kopf und blickte in die Augen seines Spiegelbildes. Sie changierten zwischen Grau und Grün. Bei ihrer ersten Begegnung vor einem Jahr hatte Stefan behauptet, Davids Augen würden im Zwielicht der Dämmerung leuchten. Unsinn. Keines Menschen Augen leuchten in der Dämmerung. Das war beiden klar gewesen. Stefan hatte in diesem Moment auf Biegen und Brechen etwas Bemerkenswertes sagen wollen – um David zu beglücken und sich selbst zu überzeugen.

Er schob seine Schultern weiter nach vorne, formte einen Buckel, dann drückte er die Arme langsam nach hinten und machte ein Hohlkreuz. Ein Wirbel knackte, und der junge Fernsehmoderator, der sich entlang eines politischen Skandals profiliert und seit Kurzem die Nachrichten im Hauptabendprogramm übernommen hatte, sprach das WortMarokko aus.

Marokko. Ein heißer Abend Anfang Juli. Die letzte Premier