1
David stand nackt vor dem Spiegel und betrachtete sich, als wäre er ein Fremder.
Was es zu sehen gab?
Den geraden Mund. Die Unterlippe etwas voller als die Oberlippe. Einen schlanken Hals. Unter dem Kehlkopf die verblasste Narbe einer Schilddrüsenoperation, da war er Ende zwanzig gewesen. Schultern, die, wie oft bei großen Menschen, leicht nach vorne fielen. Graue Haarbüschel, darin versteckte Brustwarzen, klein und fest. Fettpolster da und dort. Der Nabel tief im Bauch. Ein passabler Schwanz. Kräftige Oberschenkel. Für seine Größe überraschend kleine Füße. Insgesamt Durchschnitt. Kein Grund, sich für irgendetwas zu schämen, nicht in seinem Alter.
Als Fünfzehnjähriger war er ein schneller und wendiger Schwimmer gewesen. Hätte er konsequent trainiert, dachte David, während er sich weiter von oben bis unten musterte, hätte er es tatsächlich zu etwas bringen können. Jedenfalls war das die Ansicht seines Sportlehrers gewesen. Aber weshalb dieses Bedauern? – Verpasste sportliche Erfolge ließen sich dreißig Jahre später ohnehin nicht mehr nachholen. Und in seiner Jugend? Damals hatte es ihm an Ehrgeiz gefehlt. Wozu sich täglich schinden? Jeden Tag mehrere Stunden im Wasser. Sicher nicht!
David hob seinen Kopf und blickte in die Augen seines Spiegelbildes. Sie changierten zwischen Grau und Grün. Bei ihrer ersten Begegnung vor einem Jahr hatte Stefan behauptet, Davids Augen würden im Zwielicht der Dämmerung leuchten. Unsinn. Keines Menschen Augen leuchten in der Dämmerung. Das war beiden klar gewesen. Stefan hatte in diesem Moment auf Biegen und Brechen etwas Bemerkenswertes sagen wollen – um David zu beglücken und sich selbst zu überzeugen.
Er schob seine Schultern weiter nach vorne, formte einen Buckel, dann drückte er die Arme langsam nach hinten und machte ein Hohlkreuz. Ein Wirbel knackte, und der junge Fernsehmoderator, der sich entlang eines politischen Skandals profiliert und seit Kurzem die Nachrichten im Hauptabendprogramm übernommen hatte, sprach das WortMarokko aus.
Marokko. Ein heißer Abend Anfang Juli. Die letzte Premier