1. KAPITEL
„Soph, wir haben ein Problem.“
Für gewöhnlich versetzte eine solche Aussage Sophia Lambert in ihrer Position als Hotelmanagerin in Panik, aber heute konnte sie die Ablenkung gebrauchen. Zu dieser Jahreszeit waren Probleme genau das Richtige, denn sie verhinderten, dass ihre Gedanken in die Vergangenheit schweiften.
Sie wandte sich Andrew zu, ihrem Stellvertreter. Ihr Lächeln erstarb, als sie ihn ansah. Normalerweise ließ er sich durch nichts aus der Ruhe bringen, aber im Moment wirkte er sichtlich besorgt.
„Was ist denn?“
„Jack McGregors Tochter ist verschwunden.“
„Verschwunden?“ Jack McGregor war im Penthouse desDevereaux Leisure abgestiegen – und damit in einer der elegantesten Hotelsuiten von London. Als milliardenschwerer Geschäftsmann konnte er sich diesen Luxus leisten.
Er war verwitwet, Vater einer kleinen Tochter. Nicht dass Sophia ihn persönlich gekannt hätte, aber der Flurfunk des Hotels funktionierte bestens. Und der Unfall mit Fahrerflucht, bei dem seine Frau vor drei Jahren gestorben war, hatte Schlagzeilen gemacht. Sophia konnte sich lebhaft vorstellen, was passieren würde, wenn sein Kind verschwand …
„Nach dem Mittagessen ist sie mit ihrer Nanny zurückgekommen. Aber noch bevor sie wieder in ihrem Zimmer war …“ Andrew zuckte mit den Schultern. „… hat sie sich in Luft aufgelöst.“
Sophia schüttelte den Kopf und stand auf. „Ein kleines Mädchen löst sich nicht einfach in Luft auf.“
Wenn sie es mit McGregors Nanny zu tun gehabt hätte, wäre sie aber vielleicht auch verschwunden. Auch wenn sie McGregor selbst noch nicht kennengelernt hatte, war sie seiner Tochter und ihrer schroffen Erzieherin schon begegnet.
„Zwölf Stockwerke, hundertdreißig Zimmer, dazu Schränke und Besenkammern – das Paradies für ein Kind, das Verstecken spielt. Ich würde nicht gleich das Schlimmste annehmen. Kommen Sie schon.“ Sie ging zur Tür, dann den Flur entlang, der in die Lobby führte. Andrew folgte ihr. „Wo haben Sie bisher gesucht?“
„In den Waschräumen, in den Empfangsräumen unten, in den Fahrstühlen und im Treppenhaus. Ich habe alle freien Mitarbeiter darauf angesetzt. Marie ist bei Ms. Archer im Penthouse, um sie zu beruhigen.“
Marie war eine gute Wahl; ruhig und effizient. „Prima.“
„Aber bald müssen wir die Polizei verständigen.“
„Wir finden sie schon.“ Sophia legte Andrew flüchtig die Hand auf die Schulter. „Was ist mit den Überwachungskameras?“
„Die letzte Aufzeichnung zeigt sie auf dem Weg in einen Konferenzraum im zweiten Stock.“
„Aber dort ist sie nicht?“
„Nein.“
„Hat sie das Gebäude verlassen?“ Andrew schüttelte den Kopf. „Also gut, irgendwo muss sie sein. Wir müssen nur wie ein Kind denken … Ich gehe noch einmal in den Konferenzraum, Sie suchen weiter. Geben Sie Bescheid, wenn Sie sie finden.“
„Natürlich.“
Sie trennten sich. Sophia nahm die Treppe in den zweiten Stock. Noch machte sie sich keine Sorgen. In einem Hotel gingen jeden Tag Dinge und Menschen verloren. Es war ihr Job, dafür zu sorgen, dass alle wiederauftauchten und die Gäste glücklich abreisten, auch die kleine Unruhestifterin und ihr Vater.
Der Konferenzraum sah leer aus. Für die verspätete Weihnachtsfeier eines namhaften Unternehmens war ein Tisch mit einer roten Tischdecke, Blumen, Gläsern und Servietten gedeckt, während die übrigen Stühle und Tische ordentlich aufgestapelt an der Seite