: Pieter van Os
: Versteckt vor aller Augen Eine Überlebensgeschichte
: Europa Verlag GmbH& Co. KG
: 9783958904293
: 1
: CHF 18.00
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: 20. Jahrhundert (bis 1945)
: German
: 440
: Wasserzeichen
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB
Polnische Katholiken hielten sie für eine von ihnen. Eine ergebene Nazifamilie nahm sie auf, als wäre sie ihre eigene Tochter. Sie verliebte sich in einen deutschen Ingenieur, der Flugzeuge für die Luftwaffe baute. Was jedoch niemand wusste, war, dass Mala Rivka Kizel 1926 in Warschau in eine große polnisch-orthodoxe jüdische Familie hineingeboren worden war. Ihrem Wagemut, ihrem Charme, ihrer Intelligenz, ihrem blonden Haar und ihren blauen Augen verdankt sie, dass sie als einziges Mitglied ihrer Familie den Zweiten Weltkrieg überlebte. Als der niederländische Journalist Pieter van Os in einer Warschauer Pianobar über Malas Geschichte stolperte, machte er sich auf die Suche nach den Spuren dieses Lebens, das sie durch das vom Krieg zerstörte Mitteleuropa in den aufstrebenden Staat Israel geführt hatte, bevor sie sich schließlich in den Niederlanden niederließ. Mit ihren Erinnerungen als Leitfaden zeichnet van Os Malas Schritte physisch nach, macht Halt in lokalen Archiven und abgelegenen Dörfern und sucht nach Menschen, die sie vor 75 Jahren gekannt oder ihr geholfen haben. Damit webt er aus dem roten Faden einer individuellen Geschichte ein erschütterndes Wandgemälde dessen, was sich zwischen ca. 1905 und Kriegsende 1945 in den Gebieten des damaligen Polen abgespielt hat, in einer Zeit, als die Begriffe Nation, Rasse und Identität mit den Abgründen der menschlichen Natur im Gleichschritt liefen.

Pieter van Os, geb. 1971, ist ein niederländischer Autor und Journalist. Er schreibt für 'NRC Handelsblad' und 'De Groene Amsterdammer'. Unter anderem erschien von ihm das Buch 'We Understand Each Other Perfectly' über seine Tätigkeit als parlamentarischer Berichterstatter. Mit der Originalausgabe von 'Versteckt vor aller Augen' gewann er im Jahr 2020 den Brusse-Preis für das beste journalistische Buch in niederländischer Sprache sowie den Libris-Geschiedenis-Preis. Nach einigen Jahren in Warschau lebte er in Tirana, Albanien, und derzeit wieder in den Niederlanden.

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Der Bug (Prolog)


»Sammelt so viel wie möglich … Sortieren können sie es nach dem Krieg.«

EMANUEL RINGELBLUM, Historiker

Einmal am Tag warf die Bäuerin beim Schweinefüttern im Stall die Essensabfälle ihrer Familie neben den Trog. Durch eine kleine Öffnung im Boden landeten die Abfälle bei den fünf hungrigen Menschen, die hier untergetaucht waren.

Unter dem Schweinestall würde niemand nach Juden suchen, hatte ihr Mann vermutet. Er behielt recht. Drei überlebten den Krieg, auch wenn sie bei der Befreiung keine Ähnlichkeit mehr mit den Personen hatten, die drei Jahre zuvor an seine Tür geklopft hatten.

Wenige Essensabfälle am Tag – davon kann ein Mensch auf die Dauer kaum leben, und tagelang in der Hocke auszuharren, richtet Körper und Seele zugrunde. Die beiden Untergetauchten, die nicht überlebten, wollten das Versteck im Weiler Godlewo Wielkie eigentlich nur kurz verlassen, um ein paar Habseligkeiten zu holen, die sie in der Nähe ihres eigenen Hauses versteckt hatten. Das hatten sie wahrscheinlich in der Hoffnung getan, sie könnten die Sachen mithilfe des Bauern oder direkt bei ihm gegen zusätzliche Nahrungsmittel tauschen, oder um sich besser vor Ratten, Frost, Regenwasser oder dem Gestank der Schweineexkremente zu schützen. Doch der kurze Ausflug wurde ihnen zum Verhängnis.

Den Bauernhof gibt es noch. Er dient heute im Garten eines später gebauten Hofs als Scheune. Sonne und Regen haben das Holz über die Jahrzehnte mausgrau verfärbt. An den Mauern des etwa fünfzehn Meter entfernten neuen Hofs blättert der Putz ab; darunter treten große, achtlos aufeinandergemauerte Ziegel hervor.

Die Scheune weist in eine ferne Vergangenheit, der Hof in eine Zukunft, die auch schon wieder verstrichen ist. Er sieht aus wie ein Mini-Mehrfamilienwohnhaus, quadratisch mit Flachdach, zwei Stockwerken und zwei identischen Balkonen. Eine Satellitenschüssel rundet das Ganze ab. Die Balkone sind so winzig, dass sie allenfalls genutzt werden können, um den Müll draußen abzustellen.Kostka PRL-owskas, Kommunistenwürfel, nennen die Polen diese Höfe. Es sind Miniaturausgaben der Wohnhäuser, die während der Volksrepublik Polen (PRL) in den Großstädten wie Pilze aus dem Boden schossen, die sogenannten »bloki«.

Vier Jahre habe ich in Warschau, Polens Hauptstadt, gelebt, einer Stadt voller solcher Wohnhäuser. Von dort fuhr ich auf der Suche nach Personen und Orten in einem erschüttern