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An einem klaren Tag Ende August schwamm vor der Insel Öland eine kleine graue Boje.
Wenn man näher hinsah, bemerkte man, dass die Boje Tasthaare hatte.
Und zwei schwarze Knopfaugen.
Das war ungewöhnlich für eine Boje.
Und dann tauchte die Boje weg. Offenbar war es gar keine Boje, sondern ein Seehund. Er schwamm jetzt unter Wasser, von oben hätte man nur noch seinen Schatten gesehen: rasch dahingleitend, elegant.
Die Insel Öland liegt vor Schweden und der Schatten schwamm nach Süden. Es gab keinen Grund, nach Süden zu schwimmen, die anderen Seehunde blieben vor Öland. Aber da warder Klang.
Dieser Klang, den er sich nicht erklären konnte. Er war verwirrend. Geheimnisvoll. Und kam von Süden.
Als der Seehund den Klang zum ersten Mal gehört hatte, hatte er noch Milch bei seiner Mutter getrunken. Dann, nach ein paar Wochen, hatte sie ihn verlassen, wie Seehundmütter es tun, und er hatte eine Weile nach ihr geheult. Er hatte begonnen, Krebse und Muscheln zu fressen, wie die anderen jungen Seehunde. Irgendwann hatte er gelernt, Fische zu jagen. Und eines Nachts, als er unter einem klaren Sternenhimmel tauchte, hatte er ihn wieder gehört:den Klang. Wunderschön und melodiös, wie ein Rufen.
„Was ist das?“, hatte er die anderen gefragt, auf Seehundart, mit Gedanken, ohne Worte.
„Vergiss es“, hatten sie gesagt. „Es ist fremd und was fremd ist, ist gefährlich. Wir tauchen bei allen Geräuschen weg, die wir nicht täglich hören. Das ist eine Regel.“
Aber er hatte den Klang nicht vergessen können.
Und als der Sommer sich dem Ende zuneigte und er ihn zum dritten Mal hörte, beschloss er, ihm zu folgen.
Also schwamm er nach Süden, auf die deutsche Küste zu.
Er war allein und seine Knopfaugen glänzten vor Neugier.
Er schwamm den ganzen Tag durch und dann sah er die Küste. Das Geräusch, das von dort gekommen war, war fort. Vielleicht versteckte es sich vor ihm.
Die Küste war nicht felsig wie die, an der er geboren war. Nein, sie war hell und sandig: ein langer, strahlender, flacher Streifen. Das Licht ließ den Streifen glitzern und der Seehund dachte: „Zauberland. Ich möchte mich dort hinlegen und mich in der Sonne ausruhen. Aber es sind keine anderen Seehunde da. Sonst sonnen wir uns in Gruppen, nur beim Jagen sind wir allein …“
Er tauchte ab, um sich dem Zauberland unter Wasser zu nähern, und da sah er etwas noch viel Schöneres: Er sah Fische. Einen ganzen Haufen Fische. Sie schwammen eng beieinander, als unterhielten sie sich. Er hatte nicht gewusst, dass Fische sich unterhielten. Sonst waren sie immer in Bewegung. Der Magen des jungen Seehundes knurrte.
Er schoss mitten hinein in die glitzernde Fischpracht.
Ein eiliger Seehund kann so schnell schwimmen, wie ein schneller Radfahrer fährt, 35 Stundenkilometer, aber natürlich wusste der Seehund nichts von Fahrrädern. Er wusste nur, dass er zu diesen Fischen wollte. Er war jetzt ganz nah und da sah er, dass etwas nicht stimmte.
Da war etwas um die Fische herum. Glänzende Linien. Aber es war zu spät, um abzubremsen – so ist es mit Autos auch.
Er hatte das Maul bereits geöffnet, schnappte einen Fisch und dabei zerriss etwas, er hörte es. Und als er versuchte wegzuschwimmen, war es unmöglich.
Etwas hatte sich um seinen Hals gewickelt. Er wurde gegen die Masse der Fische gedrückt und ließ seinen eigenen Fisch los. Verwirrt.
Er fing an, mit diesem Etwas zu kämpfen.
„Es muss ein Tier sein“, dachte er. „Ein seltsames Tier, das nur aus Linien besteht.“ Dieses Tier fing Fische, ließ sie aber am Leben. Und es fing Seehunde. Es wickelte sich um einen und je stärker man zog, desto fester hielt es einen. Er schlug um sich, panisch.
Er hatte gedacht, die gefährlichsten Tiere, die es gab, wären die alten Kegelrobben, die manchmal junge Seehunde rissen.
Er musste dringend auftauchen und atmen.
„Lass los, du Biest!“, schrie er dem Tier entgegen, lautlos, in panischen Seehundgedanken. „Ich will zu dieser Küste! Ich will noch jede Menge Dinge sehen! Ich habe gerade erst mit dem Leben angefangen. Es ist falsch, wenn ich jetzt schon wieder damit aufhöre!“
Und dann, mit einem verzweifelten Ruck, bekam er seinen Kopf frei. Wieder ris