KAPITEL 1
Am südöstlichen Rand von Montane liegt ein kleines Dorf namens Valmorn. Es besteht aus zwei Straßen, die sich im Zentrum kreuzen und mit Wohnhäusern und Geschäften gesäumt sind, und ist von kärglichen Bauernhöfen umgeben. An der Kreuzung der beiden Straßen steht eine große Textilmanufaktur, in der die meisten Einwohner fieberhaft arbeiten, um den nächsten Zehnten ans Hohe Haus zu entrichten, in der Hoffnung, dass im Gegenzug ihr Leid ein wenig gelindert werde. Das Dorf ist ebenso wenig ungewöhnlich wie das, aus dem ich komme. Vieles hier kommt mir nur allzu bekannt vor.
Valmorn liegt jenseits des gefürchteten Ödlands, von dem die Menschen hier nicht wissen, dass es den Großteil des Landes ausmacht. Nur die wagemutigsten Reisenden werden es je zu Gesicht bekommen.
Jedenfalls betrachte ich mich gern als wagemutige Reisende. Das klingt etwas eleganter als »verängstigte Flüchtende« oder »schändliche Aufwieglerin«, was ich ebenfalls beides bin.
Von Osten her bläst ein kalter, feuchter Wind über die Hügelkuppe, von der aus man das Dorf überblicken kann. Er kriecht mir in den Hemdkragen und über den Rücken bis zu dem Fleckchen abgestorbenen Grases, auf dem ich sitze. Schaudernd schüttle ich ihn ab und ziehe mir meinen schwarzen Mantel enger um die Schultern. Es ist nur Wind, aber es kommt mir vor wie eine wortlose Warnung.
Ich halte den Blick auf die Ortschaft gerichtet, nicht auf meine Begleiterin, die neben mir auf und ab läuft. Ich brauche sie nicht anzusehen, um zu wissen, dass sie die geisterhaft bernsteinfarben leuchtenden Augen verdreht, als wäre meine Reaktion auf die Kälte Ausdruck einer inneren Schwäche.
Ich versuche mir vorzustellen, wie diese Aussicht sein könnte ohne die Zeichen von Tod, Furcht und Krankheit, die hier lange vor meiner Zeit eingepflanzt worden sind. In den Straßen würde es vor Menschen wimmeln, die nur dafür arbeiten, ihr Heim zu verschönern, anstatt eine ferne Macht zu besänftigen, der sie vollkommen egal sind. Die Häuser wären in leuchtenden Farben gestrichen und mit Blumenkästen voller Blüten und Kräutern behängt, statt mit dem graubraunen Staub des Ödlands verkrustet und von abgestorbenem Weinlaub überwuchert zu sein.
Ein leises Pfeifen neben mir lässt mich erschrocken hochfahren. Ich kreische und hechte zur Seite. Als ich mich umdrehe, bohrt sich nur Zentimeter neben der Stelle, an der ich gesessen habe, ein kleines Wurfmesser in die Erde.
Ich sehe zu meiner Gefährtin hinüber, weil ich fürchte, dass uns ein Angriff droht, doch sie lacht nur bellend.
»Wenn du weiter so vor dich hinträumst, wirst du nicht mehr lange leben«, sagt sie. Die leuchtenden Augen und weißen Zähne bilden einen scharfen Kontrast zu ihrer dunklen Haut. Ein breites Grinsen legt sich auf ihr Gesicht. Natürlich war das ihr Werk. Seit wir uns kennen, macht es ihr Spaß, mich zu ärgern, zu bedrohen und zu beleidigen. Ich atme tief durch, um dem Drang zu widerstehen, sie anzuschreien.
»Bei jemandem, mit dem ich zusammen reise, sollte ich nicht um mein Leben fürchten müssen«, bringe ich zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor.
»Genau diese Art von Naivität wird dein Leben beträchtlich verkürzen.«
»Ich bin nicht mehr deine Schülerin, Kennan.« Ihr abfälliger Ton regt mich auf. »Und selbst wenn ich es wäre, würde meine Existenz nicht allein dem Zweck dienen, dass du dein krankes Vergnügen daraus ziehen kannst, mich zu quälen.«
Kennan zieht enervierend ruhig eine Augenbraue hoch. »Sind wir ein bisschen empfindlich?«
»Ich schwöre dir …«
»Beruhigt euch, alle beide.« Eine mir sehr willkommene Stimme weht von der Hügelkuppe zu uns herüber, als zwei vertraute Gestalten, beladen mit nicht weniger willkommenen Vorräten, auf uns zulaufen. »Kann man euch nicht mal zehn Minuten lang allein lassen, ohne dass ihr euch an die Gurgel geht?«
»Entschuldige, Fiona.« Es ist fast, als würde ich mich bei einem verärgerten Elternteil entschuldigen, nicht be