Ein paar Monate nachdem unsere Eltern sich getrennt hatten, ging der kleine Bioladen meines Vaters, den er zwei Jahre zuvor im Einkaufszentrum um die Ecke eröffnet hatte, den Bach runter. Zu viele Schulden, zu viel Chaos, zu wenig Planung. Mein Vater war kein guter Geschäftsmann, zumindest nicht im klassischen Sinn. Er kündigte seinen Mietvertrag, ein Bekannter übernahm den Bioladen, und sein Ausflug in die Welt der legalen Kaufleute war fürs Erste Geschichte. Schon bald dealte er wieder, nur dass ich damals noch nicht wusste, was er da trieb. Als ich ihn bei meinem ersten Besuch in seiner WG fragte, wofür die Lampen hinter dem Schuhregal gut seien, antwortete er ausweichend, es gefiele ihm eben, wenn das Regal von hinten beleuchtet sei.
Zurück zu Hause klärte meine Mutter mich auf. Es handele sich um Wärmelampen für das Gras, das mein Vater züchte und verkaufe, und Gras sei eine Droge, und Drogen seien verboten, wenn die Polizei davon wüsste, auweia. Rächte sie sich dafür, dass ihr Mann sie schlug, indem sie ihrem neunjährigen Sohn en détail erklärte, was sein Vater da trieb? Dass mein Vater anders war als die Väter meiner Mitschüler:innen, das hatte ich nun schwarz auf weiß. Der Feind meines Vaters war die Polizei, und da ich nicht wollte, dass er Ärger bekam, funkelte ich Polizist:innen fortan böse an, wenn ich sie sah.
In dem Viertel, in dem ich aufwuchs und zur Schule ging, sicherte die Tatsache, dass mein Vater dealte, weder ihm noch uns einen Exotenstatus. In den 1990er-Jahren war das »rote« Altona noch ein großer Abenteuerspielplatz für Menschen mit wenig Geld. Zwar lebten hier damals schon Lehrer:innen, Künstler:innen, Handwerker:innen und Studierende, aber noch waren die einfachen Arbeiter:innen in der Überzahl, noch waren die Mieten in der Straße, in der ich aufwuchs, für arme Menschen erschwinglich, noch mussten die Nachbar:innen von gegenüber in den graubraunen Häusern sich ihre Toiletten auf dem Flur mit anderen teilen, und noch immer wohnten in fast jedem Haus in meiner Straße ein oder zwei Dealer, das waren zumindest die, von denen man wusste.
Ich war etwa fünf, da schmiss jemand dem Dealer, der im Erdgeschoss unseres Hauses wohnte, einen Molotowcocktail ins Badezimmer – wegen nicht bezahlter Drogenschulden, erzählte man sich in der Nachbarschaft. Die Rußspuren der Explosion waren noch jahrelang an der Fassade zu sehen. Der Mann machte sich Hals über Kopf aus dem Staub und ward nie wieder gesehen.
Ich war sieben, da überfiel der Dealer aus dem dritten Stock gegenüber die Sparkasse um die Ecke – ein dünner, stets Muskelshirt tragender Mann mit langen schwarzen Locken und einem wilden Bart. Einmal veräppelte ich ihn, indem ich die Pfiffe seiner Kunden unten vor dem Fenster imitierte, um mich dann, so schnell es ging, zu verstecken, sodass er umsonst aus dem Fenster schaute. Die Polizei kam ihm schon wenige Minuten nach dem Überfall auf die Schliche. Er war beobachtet worden, wie er auf direktem Weg die zweihundert Meter nach Hause lief. Ich bemerkte das Sondereinsatzkommando vor der Tür und rief: »Mama, Mama, da stehen Polizisten mit Gewehren vor dem Fenster!«
Ungefähr zu dieser Zeit beantragte unsere Mutter ein Tor, das den Hinterhof zur Straße hin absperrte, nachdem wir beim Spielen in der Sandkiste Spritzen gefunden hatten.
In der Wohnung über uns wohnte eine portugiesische Familie, der Nachbar neben uns kam aus Ghana. Bis auf wenige Ausnahmen gab es in unserem Haus kaum deutsche Familien, dafür jede Menge türkischstämmige. Die Männer im Haus trugen Schnauzer und fuhren nachts oder frühmorgens Brot aus, wenn sie denn Arbeit hatten. Man wohnte zu viert, fünft oder sechst in Zwei- bis Dreizimmerwohnungen. Gab es irgendwo Streit, verstand man jedes Wort, vorausgesetzt, man konnte die Sprache. Eine Sprache verstand