1. KAPITEL
Genau wie früher in der Schule.
Obwohl ich Lehrerin bin, werde ich jedes Mal nervös, wenn ich zur Schulleitung gerufen werde. Tausend Ameisen scheinen in meinem Magen zu krabbeln. Meine Knie zittern. Mein Herz schlägt wild in meiner Brust. Genau wie in meiner Kindheit, als ich so oft wegen meiner schlechten Noten zum Direktor geschickt wurde. Ironie des Schicksals, dass ich jetzt ausgerechnet an der angesehenen MädchenschuleEmily Sudgrove in Bath unterrichte.
Wenn die Schulleiterin einen Lehrer sprechen will, steckt fast immer ein Problem mit den Eltern dahinter. Vielleicht eine Beschwerde oder Kritik daran, wie man ihre kleinen Schätzchen behandelt. Helikoptereltern können bekanntlich sehr anstrengend sein. Die Eltern an dieser Schule würde ich eher als Kampfpiloten bezeichnen.
Als ich nun vor der Tür stand, holte ich noch einmal tief Luft. Dann klopfte ich und trat ein.
„Kommen Sie herein, Jem“, begrüßte mich die Schulleiterin Miss Fletcher. „Ich möchte Ihnen Dr. Alessandro Lucioni vorstellen.“ Sie nickte zu dem Mann, der vor ihrem Schreibtisch stand. „Dr. Lucioni hat gerade sein Kind bei uns angemeldet.“
Der Raum schien sich um mich zu drehen, und ich spürte einen Stich in der Brust. Mit leerem Gesichtsausdruck starrte ich ihn an. Wenigstens hoffte ich, dass mein Gesichtsausdruck leer wirkte und nichts von dem Orkan verriet, der in meinem Inneren tobte.
Alessandro war Vater? Er war verheiratet? Verliebt? Die Worte purzelten durch meinen Kopf, und es kam mir vor, als drückte ein unsichtbares Bleigewicht auf meine Brust.
Alessandro nickte kurz und reichte mir die Hand. „Miss Clark.“
Ich starrte auf seine Hand. Die Hand, die jeden Zentimeter meines Körpers kannte. Die mich zu meinem ersten Höhepunkt gebracht hatte. Die Finger, die mich damals Dinge fühlen ließen, die ich nie zuvor und nie wieder danach gespürt hatte. Tief versteckte Erinnerungen drängten an die Oberfläche, Gefühle, die ich so lange verdrängt hatte. Hitze schoss durch meinen Körper.
Langsam hob ich meinen Blick zu seinen Augen. Er wollte also so tun, als kannten wir uns nicht. Von mir aus. Das Spiel konnten zwei spielen.
„Willkommen inEmily Sudgrove“, sagte ich und schüttelte seine Hand. Als ich seine kühlen Finger auf meiner Haut spürte, stiegen Bilder der Vergangenheit in mir auf.
Damals hatte er eine sinnliche Macht über mich besessen. Ein Wort, eine Berührung von ihm hatten gereicht, damit ich die Welt um mich herum vergaß.Damals stimmt nicht ganz. Das gebe ich zu. Er besaß immer noch dieselbe Macht über mich. Jeder Nerv in meinen Fingern kribbelte wie nach einem Elektroschock.
„Danke.“ Er verzog den Mund zu einem Lächeln, doch seine Augen blieben kühl.
Seine Augen! Dieses satte schimmernde Braun. Dunkler als Schokolade. Starke Augen. Augen, die mit einem Blick das Blut schneller durch meine Adern fließen lassen konnten.
Prüfend ließ er den Blick über mein Gesicht schweifen. Hoffentlich bemerkte er nicht, dass meine Augenbrauen mal wieder gezupft werden mussten. Warum hatte ich mir nicht die Zeit genommen, zur Kosmetikerin zu gehen? Und warum nur hatte ich heute Morgen nicht das Glätteisen für mein Haar benutzt?
Meine blonden Korkenzieherlocken treiben mich in den Wahnsinn. Mein Leben lang musste ich mir Blondinenwitze anhören. Wenn ich die Locken bändige, wirke ich sofort vertrauenerweckender und professioneller. Jedenfalls rede ich mir das gerne ein.
Ich konnte keinen klaren Gedanken fassen. Mein Gehirn schien sich im Schockzustand zu befinden, und ich wollte nur eins – weglaufen vor Alessandro. Genau wie ich es in den letzten fünf Jahren getan hatte.
Ab und zu hatte ich ihn in Zeitschriften gesehen. Vor einigen Jahren hatte er imLondon Theater während der Vorstellung das Leben eines Schauspielers gerettet. Damals stand sein Name in allen Zeitschriften und machte ihn über Nacht berühmt.
Alessandro war Herzchirurg. Ein verdammt guter, das musste ich ihm lassen. Auch wenn er mein Herz gebrochen hatte.
Vor einigen Wochen war ich ihm in Knightsbridge über den Weg gelaufen, aber zum Glück hatte er mich nicht gesehen. Ich saß gerade mit meiner Schwester Bertie im Restaurant, als er mit einer wunderschönen Blondine hereingekommen war. Die Frau an seiner Seite gehörte zum Typ wunderschönes Supermodel mit ewig langen Beinen, perfekter Haut, perfekt gezupften Augenbrauen und seidig glattem Haar. Seit