1. KAPITEL
„Mutter!Mutter!“ Noch außer Atem von ihrem Sprint auf dem Kiesweg zum Haus ließ Kimberley ihre Tasche auf den gekachelten Boden des Korridors fallen und lauschte.
Stille.
„Mutter?“ rief sie besorgt.
Aus dem kleinen Wohnzimmer war ein scharrendes Geräusch zu hören. Kimberley eilte sofort in den Raum, wo ihre Mutter gerade im Begriff war, den kleinen Hocker zu verrücken, auf den sie ihren Fuß hochgelegt hatte.
„Hier bist du also.“ Kimberleys Sorge verebbte.
Ihre Mutter schob die Brille auf ihrer Nase zurecht und betrachtete ihr einziges Kind gedankenvoll. Ein leichtes Lächeln spielte um ihre Lippen, wobei die starke Ähnlichkeit mit ihrer Tochter deutlich wurde. „Wo sollte ich wohl sonst sein? Gefesselt und geknebelt auf dem Dachboden?“
Kimberley lachte leise. „Du bist unmöglich. Vielleicht solltest du deine Krimilektüre ein wenig einschränken.“
„Und vielleicht würdedir ein bisschen mehr Ablenkung guttun. Du bist viel zu sehr mit deiner Arbeit beschäftigt“, entgegnete Mrs. Ryan energisch.
Kimberley beschloss, diese Bemerkung zu übergehen. Welche Frau würde sich nicht in die Arbeit stürzen, wenn ihr Liebesleben praktisch nicht existent war? Und an wem liegt das wohl? fragte sie sich voller Selbstironie.
Sie küsste ihre Mutter und ließ sich ebenfalls auf dem Sofa nieder. „Was gibt es denn so Dringendes? Weihnachten wäre ich doch sowieso zu Besuch gekommen.“ Dann erst fiel ihr Blick auf den bandagierten Fuß ihrer Mutter. „Oh nein, was hast du denn da gemacht?“ rief Kimberley erschreckt aus.
„Ich habe mir nur den Knöchel verstaucht, kein Grund zur Sorge.“
„Aber … warst du schon beim Arzt? Was sagt er?“
„Ich muss den Fuß einfach nur schonen, es kommt alles wieder in Ordnung.“ Mrs. Ryan zögerte. „Das einzige Problem ist …“
„Was? Was ist das Problem?“
„Ich kann nicht arbeiten.“ Mrs. Ryan lehnte sich zurück und blickte ihre elegant gekleidete Tochter an, die missbilligend ihr hübsches Gesicht verzog.
„Dann gib diesen Job auf, Mum!“ sagte Kimberley. „Ich verdiene genug, um dir so viel Geld zu schicken, wie du von Mrs. Nash bekommst.“ Das leichte Zögern bei diesem Namen war unverkennbar.
„Darüber haben wir doch schon gesprochen. Ich möchte nicht auf die Unabhängigkeit verzichten, die ich dadurch habe.“
„Aber, Mum, musst du denn ausgerechnet einenPutzjob machen?“
„Mein liebes Kind, du kannst manchmal ein richtiger Snob sein“, sagte Mrs. Ryan vorwurfsvoll. „Oder geht es nur darum, dass du es nicht gern siehst, dass ich für die Familie putze, in die du beinahe eingeheiratet hättest?“
Kleine Schweißperlen traten auf Kimberleys Stirn, ihre Schultern verkrampften sich. „Das ist doch eine alte Geschichte“, entgegnete sie mit leicht zittriger Stimme.
„Das stimmt allerdings. Ich habe nämlich eine Neuigkeit für dich.“
„Was für eine Neuigkeit?“
„Er hat sich verlobt und wird bald heiraten.“
Kimberley zuckte zusammen und spürte förmlich, wie die Farbe aus ihrem Gesicht wich. „Tatsächlich?“ Ihr Mund fühlte sich trocken an. „Wie schön!“
„Nicht wahr? Ich habe Duncan immer gemocht“, sagte Mrs. Ryan.
„Duncan?“ Kimberleys Stimme überschlug sich, und ihre Mutter warf ihr einen erstaunten Blick zu.
„Ja, Schatz, natürlich Duncan. Dein Ex-Verlobter, der Mann, den du einmal heiraten wolltest. Von wem sprechen wir denn sonst?“
Verstohlen wischte sich Kimberley über die Stirn. Damit ihre Mutter ihre Verstörung nicht bemerkte, suchte sie eilig nach einer Ablenkung. „Wie wäre es denn mit einer Tasse Tee? Ich bin am Verdursten.“
„Da sage ich nicht Nein!“
Schnell verließ Kimberley das Zimmer und füllte in der kleinen Küche den altmodischen Teekessel. Mit zitternden Händen legte sie ein paar Kekse auf einen Teller, während sie sich bemühte, sich wieder zu fangen. Was ihre Mutter wohl sagen würde, wenn sie wüsste, an wen Kimberley bei ihrem Gespräch gedacht hatte.
Harrison Nash – den Bruder ihres ehemaligen Verlobten. Den Mann mit den kühlen grauen Augen, den kantigen Gesichtszügen und dem aufregenden Körper. Harrison Nash, der ihr ganzes Leben durcheinander gebracht hatte, ohne sich dessen bewusst zu sein …
Es war ein herrlicher Sommerabend gewesen, die Strahlen der untergehenden Sonne tauchten den Salon von Brockbank House in ein rotgoldenes Licht. Kimberley war hergekommen, um ein zweifellos schwieriges und schmerzhaftes Gespräch mit ihrem Verlobten Duncan zu führen. Nach mehr