bis
Überfall
Die Morgendämmerung hat gerade erst begonnen – bis zum Sonnenaufgang in Oberbayern dauert es am 5. September 1972 noch etwas mehr als eine Stunde.1 Der Dienstag verspricht schön zu werden, es ist wolkenlos und windstill, die Temperatur hat nachts die 14 Grad nicht unterschritten und soll tagsüber auf angenehme 22 bis 24 Grad steigen. Neonlaternen erleuchten den Weg entlang des knapp zwei Meter hohen Maschendrahtzauns um das Olympische Dorf in Münchens Norden. Als kurz vor halb fünf Uhr einige Beamte des Olympia-Postamtes auf dem Weg zur Frühschicht hier entlang gehen, fallen ihnen junge Männer in Sportkleidung auf, die über den Zaun am verschlossenen Tor 25a klettern. Heinz-Peter Gottelt schätzt, dass es etwa zwölf Personen sind; seine Kollegen Arno Th. und Klaus-Dieter Sch. erinnern sich an sieben bis acht, Hans La. an zwei Gruppen von jeweils vier bis fünf Mann. Die Postbeamten denken sich dabei wenig – es handelt sich wohl wieder um Sportler, die nach einer langen Nacht zurück zu ihren Quartieren streben und nicht an einem der nachts geöffneten, aber kontrollierten Eingänge auffallen wollen.2
Ungefähr zur gleichen Zeit bereiten sich im Revier des Ordnerdienstes Gertrud Lau. und ihr Kollege Johannes Lu. auf ihre nächste Fußstreife vor. Die 36-jährige Kriminalobermeisterin und der wenig ältere Kriminaloberkommissar haben Nachtschicht. Sie tragen hellblaue Kleidung und weiße Baskenmützen; bewaffnet sind sie nicht. Beides ist Teil des Sicherheitskonzeptes für die XX. Sommerspiele, das jede Erinnerung an die martialischen Uniformparaden der Spiele von Berlin 1936 vermeiden soll. Fast alle Angehörigen des rund 2000 Personen starken Ordnerdienstes auf dem Olympia-Gelände sind erfahrene Polizeibeamte und aktive Polizeisportler. Doch sie sollen nicht wirken wie Sicherheitskräfte und sind für die Dauer der Spiele formal auch nicht dem Münchner Polizeipräsidenten unterstellt, sonderndem Ordnungsbeauftragten des Organisationskomitees. Einen Unterschied bedeutet das nicht, denn beide Funktionen übt in Personalunion derselbe Mann aus, der Jurist Manfred Schreiber. Jede Fußstreife hat ein tragbares Funkgerät bei sich. Gegen halb fünf Uhr morgens machen sich Gertrud Lau. und Johannes Lu. auf den Weg durch das Olympische Dorf.3
Die beiden Beamten bekommen nicht mit, dass wenige Minuten später acht junge Männer das Treppenhaus zum Haus Connollystraße 31 betreten, in dem drei Viertel der Olympia-Delegation Israels untergebracht sind. Die Trainingsanzüge, in denen sie zuvor über den Zaun geklettert sind, haben sie gegen mitgebrachte Straßenkleidung ausgetauscht; aus den Sporttaschen hat jeder ein Sturmgewehr vom Typ Kalaschnikow genommen. Sie schleichen zuerst die Treppen hinauf bis in den zweiten Stock, stellen dort aber an den Namensschildern an einem Apartment fest, dass hier offensichtlich Asiaten wohnen (es handelt sich um Sportler aus Hongkong). Die Bewaffneten kehren um und lesen am Apartment Nr. 1 links im Erdgeschoss jüdisch klingende Namen. Die Tür ist nur zugezogen, nicht verriegelt.4
Was Tuvia Sokolsky aus dem Schlaf reißt, kann er nicht genau sagen. Jedenfalls sieht der Trainer der israelischen Gewichtheber gegen 4:45 Uhr noch aus seinem Bett, wie sich Josef Gutfreund, als Kampfrichter im Ringen ebenfalls Mitglied der Delegation, von innen gegen die Wohnungstür stemmt. Sokolsky springt auf, schlüpft in eine herumliegende Hose und flüchtet, als sich ein Gewehrlauf durch den Türspalt schiebt, über die rückseitige Terrasse aus der Wohnung. „Freunde, haut ab!“, hört er Gutfreund noch rufen, dann fallen Schüsse und jemand schreit.5 Der 30-jährige Trainer rennt in Richtung eines erleuchteten Fensters und eine Treppe hinab.
Plötzlich stößt der kleine, kompakte Mann mit jemandem zusammen – es ist der Wehrpflichtige Raoul Lei., der schon seit etwa einer halben Stunde in der Connollystraße wartet. Er ist als Fahrer der Olympia-Mannschaft der Bahamas zugeordnet und soll an diesem Morgen zwei Sportler abholen, um sie zum Flughafen München-Riem bringen, wo sie die Frühmaschine nach London nehmen wollen; doch die beiden haben sich offensichtlich verspätet. Lei. strauchelt, hat aber keine Zeit für Ärger, denn schon hört er eine schreckerfüllte Stimme, die stammelt: „Schießen, schießen, mein Freund tot! Polizei rufen!“ Raoul Lei. eilt mit Tuvia ins nächstgelegene Haus und klingelt dort einen Bewohner aus dem Bett – hier wohnen südkoreanische Sportler. Einer lässt ihn ans Telefon, um den Notruf der Polizei zu wählen. Dann geht er die wenigen Meter zurück zum Haus Connollystraße 31 und<