: Raymond Unger
: Die Heimat der Wölfe Ein Kriegsenkel auf den Spuren seiner Familie. Eine Familienchronik.
: Europa Verlag GmbH& Co. KG
: 9783958900394
: 1
: CHF 17.70
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: Geschichte
: German
: 224
: Wasserzeichen
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB
Eine Familienchronik und Autobiografie von großer emotionaler Wucht. Die Auswirkungen von verdrängten traumatischen Erfahrungen sind vielen Menschen nicht bewusst, doch sie vererben sich auf die nächste Generation und üben bis in die Gegenwart einen starken Einfluss auf die persönliche Biografie aus. Sehr oft sind sie der Schlüssel, um das eigene Leben besser zu verstehen. Raymond Unger legt in Die Heimat der Wölfe offen, worüber in den meisten Familien nicht gesprochen wurde und wonach man heute kaum noch fragen kann, da es bald niemanden mehr gibt, der die Schrecken des Zweiten Weltkriegs, Flucht und Vertreibung selbst erlebt hat. Eindringlich schildert er anhand seiner eigenen Familiengeschichte, wie die Generation der Kriegskinder traumatisiert wurde und dadurch ihren eigenen Kindern - die heute zwischen 40 und 65 Jahre alt sind - häufig nur verschlossen, körperlich/seelisch unnahbar und wenig empathisch begegnen konnte. 'Wenn du hervorbringst, was in dir ist, wird dich, was du hervorbringst, erretten. Bringst du nicht hervor, was in dir ist, wird dich, was du nicht hervorbringst, zerstören. ' Aus dem gnostischen Thomas-Evangelium Erste literarische Auseinandersetzung mit der Thematik Kriegsenkel Haben die traumatischen Erlebnisse von Eltern und Großeltern Einfluss auf die nachfolgende Generation? Gibt es ein transgenerationales Erbe? Raymond Unger, angesehener Berliner Künstler und Therapeut, hat sich anhand von persönlichen Erinnerungen, Tagebüchern und Tonbandaufzeichnungen intensiv mit der Chronik seiner Familie und den Kriegstraumata seiner Eltern auseinandergesetzt. Es ist ihm gelungen, das Schicksal der Kriegsenkel in literarischer Form zu verarbeiten und seinen Lesern damit einen Spiegel für die eigene Reflexion anzubieten. Seine glänzend erzählte Familienchronik verdichtet er zu einem Gesamtbild großer Themen des 20. Jahrhunderts.

Raymond Unger, Jahrgang 1963, lebt als politischer Autor und bildender Künstler in Berlin. Er ist als Kunstmaler in eigenem Atelier tätig, schreibt Essays und Bücher und hält Vorträge zu den Themen Kunst, Psychologie und Politik. In seinen großen Gesellschaftsanalysen 'Die Wiedergutmacher' (2018, Europa Verlag), 'Vom Verlust der Freiheit' (2021, Europa Verlag) und 'Das Impfbuch' (2021, Scorpio Verlag) untersucht Unger die moralischen Übersteuerungen deutscher Politikansätze in der Klima-, Migrations- und Pandemie-Problematik. Als ehemaliger Therapeut besitzt Unger zwanzig Jahre medizinische Berufserfahrung. Anfang der 1990er-Jahre leitete er eine Naturheil- und Psychotherapiepraxis in Hamburg und bekleidete eine Dozentur für Naturmedizin an einer Hamburger Fachschule für Heilpraktiker. Für sein bildnerisches Schaffen erhielt Raymond Unger 2011 den internationalen Lucas-Cranach-Kunstpreis für Malerei. In seiner Eigenschaft als Maler und Autor bekam er 2014 eine Einladung des Präsidenten der Europäischen Kommission José Manuel Barroso zur dritten Generalversammlung NEW (Narrative for Europe). Die Einladung erging an ausgewählte Intellektuelle, Wissenschaftler und Künstler, die sich durch Haltung, Engagement oder Tätigkeit für die Zukunft Europas einsetzen.

WOLFSWINTER
| 1924 | Fürstenfeld, Bessarabien


An die Wölfe Bessarabiens hatten sich die deutschen Kolonisten längst gewöhnt. Es waren ohnehin nicht mehr viele. Seit fast zwei Jahrhunderten wurden Wölfe getötet, wo immer man auf sie traf. Sie wurden in Wolfsgruben gefangen und mit Mistgabeln erstochen oder einfach mit Knüppeln erschlagen. Gewehre waren nicht verbreitet unter den Bauern. Wer aber ein Gewehr besaß, nutzte es vor allem für die Wolfsjagd.

In einem Wolfswinter jedoch war es anders. In diesem besonders harten Winter fror der Dnister zu. Damit dieser schnell fließende Grenzfluss zu Russland zufrieren konnte, mussten die Temperaturen über Wochen unter minus 20 Grad fallen. Dies geschah immerhin alle drei bis vier Jahre, und dann kamen sie aus Russland über den Fluss: große, ausgehungerte Wolfsrudel, manchmal zwanzig Tiere auf einmal.

Wilhelmines Mutter sollte Recht behalten, dieser Winter war ein Wolfswinter. Schon im Herbst hatte die Mutter prophezeit, dass der Winter hart werden würde. Eben hatte Wilhelmine die Kuh versorgt und die große Schneeschaufel vorsichtshalber gleich mit ins Haus genommen. Rasch tropfte jetzt der Schnee von der Schaufel, denn sie lehnte an der heißen Ofenwand.

Jedes deutsche Haus in Bessarabien hatte so eine Wand, hinter der sich ein besonderer Ofen verbarg. Niemand wusste, wer zuerst angefangen hatte, solche Öfen zu bauen. Aber ohne diese trickreichen Öfen wäre das Überleben im Winter wohl nur schwer möglich gewesen. Die zentrale Stützwand deutsch-bessarabischer Häuser war hohl beziehungsweise eine Doppelwand. An der Stirnseite gab es mächtige Eisenbeschläge mit einer schweren Feuertür. Diese Brennstelle fasste große Mengen Holz. Doch dieses Holz brannte nicht einfach schnell ab. In der Wand schlang sich ein ausgeklügeltes Schornstein-Labyrinth bis nach oben zum Dach. Der Rauch wurde dabei mehrfach innerhalb der Wand umgeleitet, bis er seinen Weg ins Freie fand. Bereits eine Holzladung reichte aus, dass das Mauerwerk die Hitze die ganze Nacht hindurch speicherte und es dadurch bis zum nächsten Morgen behaglich warm blieb.

In den letzten zwei Wochen hatte es so viel geschneit, dass die Wege über den Hof an Schützengräben erinnerten. Ein schmaler Gang führte quer über den Hof zur Scheune, ein anderer am Haus entlang zu den Ställen. Jeden Tag aufs Neue mussten Wilhelmines Brüder die Zugänge freihalten. Nur den Weg zur Sommerküche, schräg gegenüber, sparten sie sich. Schon im Herbst wurde die Großküche aufgegeben, bis zum April würde sie Winterschlaf halten. Mitunter verwehten die Wege in der Nacht so stark, dass die Brüder morgens ganz schön schuften mussten, damit Wilhelmine überhaupt die Kuh melken konnte. Doch in den letzten zwei Tagen hatten sie überraschend wenig zu tun, denn es war für wenige Stunden so warm geworden, dass der Schnee kurz antaute. Dadurch hatte sich eine feste Harschschicht gebildet, und nun lagen die enormen Schneemassen wie versiegelt da. Umso besser, dachten sich die Brüder, denn verwehen konnte der Schnee nun nicht mehr. Aber auch diese Besonderheit hatte einen Nachteil, wie sich bald herausstellen würde.

In dieser Nacht wurde es kälter als jemals zuvor. Die schwache Sonne war soeben untergegangen; der Himmel erschien kristallklar. Das helle Mondlicht fiel auf den Schnee und war kaum von der fahlen Tagessonne zu unterscheiden. Wäre jetzt einer der Dorfbewohner draußen gewesen, er hätte ein merkwürdiges Schauspiel beobachten können: Ohne dass es einer mitbekommen hatte, befand sich das Dorf bereits seit Tagen in einem Belagerungszustand. Auf dem kleinen Hügel jenseits des Ortes hatte sich eine Reihe dunkler Gestalten versammelt. Selbstsicher und ohne die geringsten Anzeichen von Unruhe saßen sie im Schnee, den Blick starr auf das Dorf gerichtet. Die Ohren steil nach vorn gestellt, nahmen sie jedes Geräusch von dort auf. Nichts entging dem Rudel. Das Geklapper aus den Küchen, die Stimmen der Menschen, die Ketten der Tiere in den Ställen. Keiner aus der Gruppe schien es eilig zu haben. Und keiner schien sich verstecken zu wollen. Warum auch? Bislang jedenfalls hatte sie noch niemand gestört auf ihrem Horchposten, dem kleinen Hügel hinter dem Weinberg. Hunderte Kilometer hatte das Wolfsrudel bereits hinter sich gebracht. Die Tiere waren von der langen Wanderung abgemagert, aber immer noch kraftvoll. In diesem kleinen Ort gab es etwas, dass ihren Wandertrieb unvermittelt gestoppt hatte. Wie ein unsichtbarer Magnet zog der unwiderstehliche Geruch von Schafdung das ausgehungerte Rudel an den Hügel. Langsam wurde es ruhig im Dorf. Mit den fallenden Temperaturen schienen auch die Geräusche des Ortes zu verstummen. Plötzlich, gegen Mitternacht, lief der Leitwolf den Hügel hinab, ganz so, als hätte er eine Entscheidung getroffen. Leichtfüßig und im Trab folgten die anderen Wölfe nach. Nur ab und zu brach mal eine Pfote durch die Eisschicht auf dem Schnee, wovon die Tiere sich jedoch nicht aufhalten ließen.

Wilhelmine schlief noch nicht. Jetzt im Winter genoss sie es, lange wach zu liegen und ihren Gedanken nachzuhängen. Im Sommer war das undenkbar. Da war sie gerade mal eingeschlafen, schon hörte sie um halb vier Uhr morgens den Vater vor ihrer Kammer: »Steh uff! S’isch hell Dag!« Nach dem ersten Weckruf hatte sie höchstens drei Minuten Zeit zum Aufstehen, sonst kam die Steigerung: »Steh uff, sag ich! Der Kühhirt knallt scho!« Und sosehr Wilhelmines M