: Andreas Urs Sommer
: Eine Demokratie für das 21. Jahrhundert Warum die Volksvertretung überholt ist und die Zukunft der direkten Demokratie gehört
: Verlag Herder GmbH
: 9783451827181
: 1
: CHF 14.50
:
: Politik
: German
: 256
: Wasserzeichen
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB
Viele Bürger, besonders die jüngeren, aber auch einige Wähler der extremen Parteien, fühlen sich in unserem Parteiensystem nicht mehr repräsentiert. Auf die Frage, bei wem die Nachbarin bei der letzten Bundestagswahl ihr Kreuzchen gemacht hat, nur Schulterzucken und Resignation. Dabei ist die Vertretung von vielen durch einen Einzelnen bei unseren Möglichkeiten gar nicht mehr notwendig. Per Mausklick oder Wischen können Meinungen in Sekundenschnelle statistisch erhoben werden. Wir müssen endlich lernen, politisch mitzuentscheiden. Die Idee ist keine politische Verschwörung, sondern direkte Demokratie »made in Switzerland«. Andreas Urs Sommer zeigt in diesem Buch, dass es niemand nötig hat, nur repräsentiert zu werden. Er appelliert an alle: Wir müssen für uns selbst stehen und politisch mitentscheidend mündig werden!

Andreas Urs Sommer, geb. 1972, stammt aus der Schweiz und ist Professor für Philosophie mit Schwerpunkt Kulturphilosophie an der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg sowie Leiter der Forschungsstelle Nietzsche-Kommentar der Heidelberger Akademie der Wissenschaften.

Aufriss


Der Erzählerschlendrian hat im Roman keinen Platz;
man erzählt nicht, sondern baut.

Alfred Döblin:An Romanautoren und ihre Kritiker.
Berliner Programm
(1913)

 

Krise überall, schon längst vor Corona. Jedenfalls, wenn man dem Glauben schenken will, was traditionelle Medien von rechts bis links ihren verschreckten Nutzerinnen und Nutzern ebenso unentwegt einhämmern wie die neuen sozialmedialen Akteure, die „Influencer“ und „Blogger“. Seltene Einigkeit herrscht darüber, dass die Krise da sei, dass sie dränge, ja, dass es eigentlich bereits viel zu spät sei, um noch etwas dagegen auszurichten. Weitgehende Uneinigkeit zeigt sich hingegen bei der Bestimmung dessen, was die Krise ausmacht. Da gibt es beispielsweise sehr prominent jene, die sagen, die Krise sei ökologischer Art, es drohten Erderhitzung und Klimakollaps. Fast ebenso lautstark sind die, die die Krise als soziale identifizieren: Grund allen Übels sei die ungleiche Verteilung von Kapital, Ressourcen und Arbeit. Kaum verhaltener klingen die Stimmen jener, die die Krise in einem noch immer patriarchalisch dominierten Geschlechterverhältnis und dem Mangel an Frauengleichberechtigung begründet sehen, oder derjenigen, die die Krise in rassistischer Diskriminierung verwurzelt wähnen. Sehr schrill lassen sich schließlich diejenigen vernehmen, die zu wissen vorgeben, die Krise gründe einzig darin, dass unabsehbar viele Fremde zu uns kämen, auf nichts weiter sinnend, als das „Wesen unseres Volkes“ zu untergraben. Mitunter schwingt sich das allgemeine Krisenbewusstsein zu höheren synthetischen Einsichten auf und versucht, mehrere als höchst kritisch empfundene Zeitphänomene zu bündeln und sie als Symptome eines um sich greifenden, allgemeinen Kulturverfalls auszugeben, der falsche Eindeutigkeit her-, alles weg-, ver- und zustelle.[1]

Die Krise ist im gehobenen, von allerlei Nichtigkeitsängsten heimgesuchten Bildungsbürgertum angekommen. Dieser Kulturnegativismus segelt unter der Flagge „Alles ist Krise“ und fühlt sich im eisigen Gegenwind des angeblich anstehenden Untergangs offensichtlich pudelwohl.[2] Bekommt der Kulturnegativismus mit der Coronapandemie nicht schmerzlich recht: Geht nicht alles vor die Hunde, wenn nicht ein starker Arm einer starken Frau oder eines starken Mannes das Ruder noch im letzten Augenblick herumreißt und uns eine letzte Frist vor dem endgültigen Schiffbruch vergönnt?[3]

Ich muss die Untergangseuphoriker enttäuschen. Sowenig die Probleme des sozialen Unrechts oder des ökologischen Ungleichgewichts zu leugnen sind, dringt, wer sie zur Hauptsache erklärt, noch nicht zum Kern des gegenwärtigen Krisenempfindens vor. Will man es in der Sprache des Kulturnegativismus beschreiben, würde man sagen, es handle sich im Kern um eine Krise der Ohnmacht. Weil ich keinerlei kulturnegativistische Neigung verspüre, ziehe ich es vor, von einerKrise der Nichtbeteiligung zu sprechen. Diese Wortwahl scheint mir analytisch fruchtbarer als das lähmende Vokabular der Ohnmacht.

Was wir beobachten, ist eine seit mehreren Jahrhunderten anhaltende Herausbildung des selbstmächtigen Individuums, dessen Weltmacht, sprich: politisches Einflussvermögen, damit nicht Schritt gehalten hat.

Dieses Buch will etwas zeigen. Es wird nicht leugnen, dass all die genannten Probleme von Ökologie bis Migration, von Ausbe