: Ulrike Loch, Elvisa Im?irovi?, Judith Arztmann, Ingrid Lippitz
: Im Namen von Wissenschaft und Kindeswohl Gewalt an Kindern und Jugendlichen in heilpädagogischen Institutionen der Jugendwohlfahrt und des Gesundheitswesens in Kärnten zwischen 1950 und 2000
: StudienVerlag
: 9783706562225
: 1
: CHF 20.30
:
: Zeitgeschichte (1945 bis 1989)
: German
: 390
: Wasserzeichen
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB
Massive Gewalt an Kindern und Jugendlichen in der Heilpädagogischen Abteilung des Landeskrankenhauses Klagenfurt und dem Landesjugendheim Rosental dokumentiert die Arbeit der Opferschutzkommissionen des Landes Kärnten für die Jahre 1950 bis 2000. Wie kam es zu diesem Ausmaß an Gewalt in Institutionen, deren gesellschaftlicher Auftrag Behandlung, Betreuung, Bildung, Erziehung und Pflege ist? Wie war es möglich, dass heilpädagogische Fachkräfte über Jahrzehnte die Gewalt nicht wahrnahmen und/oder die betroffenen Kinder und Jugendlichen zum Schweigen zwangen? Die vorliegende Studie beschäftigt sich mit diesem schmerzlichen Teil der österreichischen Geschichte und verfolgt das Ziel, dem Tabu und der dahinter liegenden destruktiven Kraft der Gewalt ihre Wirkmächtigkeit zu nehmen. Indem die schmerzlichen Erfahrungen von vielen Hunderten Kindern, Jugendlichen und ihren Familien sowie die gesellschaftlichen Hervorbringungsbedingungen dieser Gewalt Teil des kollektiven Gedächtnisses werden und öffentliche Anerkennung als Menschenrechtsverletzung erfahren, werden neue, hoffnungsvolle Formen sozialer Teilhabe (für die Betroffenen und alle anderen) möglich.

Judith Arztmann, B.A., ist studentische Mitarbeiterin im Projekt 'Gewalt an Kärntner Kindern und Jugendlichen in Institutionen', Institut für Erziehungswissenschaft und Bildungsforschung, Abteilung für Sozial- und Integrationspädagogik, Alpen-Adria-Universität Klagenfurt, Masterstudium Sozial- und Integrationspädagogik, Thema der Masterarbeit: Die Darstellung von Kindern und Jugendlichen in heilpädagogischen Gutachten. Elvisa Im?irovi?, Mag.a phil., ist wissenschaftliche Mitarbeiterin im Projekt 'Gewalt an Kärntner Kindern und Jugendlichen in Institutionen', Institut für Erziehungswissenschaft und Bildungsforschung, Abteilung für Sozial- und Integrationspädagogik, Alpen-Adria-Universität Klagenfurt. Psychologin in der Kinder- und Jugendhilfe, Doktorandin und Lehrbeauftragte an der Universität Klagenfurt. Ingrid Lippitz, B.A. MA, ist wissenschaftliche Mitarbeiterin im Projekt 'Gewalt an Kärntner Kindern und Jugendlichen in Institutionen', Institut für Erziehungswissenschaft und Bildungsforschung, Abteilung für Sozial- und Integrationspädagogik, Alpen-Adria-Universität Klagenfurt. Sozialpädagogin in der Kinder- und Jugendhilfe und Lehrbeauftragte an der Universität Klagenfurt. Ulrike Loch, Prof.in Dr.in, ist Leiterin des Projektes 'Gewalt an Kärntner Kindern und Jugendlichen in Institutionen' an der Alpen-Adria-Universität Klagenfurt sowie Professorin für Soziologie kultureller und kommunikativer Prozesse, Fakultät für Bildungswissenschaften, Freie Universität Bozen.

1 Über Gewalt gesellschaftlich ins Gespräch kommen*


1.1. Menschenwürde


„Alle Menschen sind gleich an Würde und Rechten geboren“ lautet das oberste Prinzip der Menschenrechte als Konsequenz aus den Verbrechen an der Menschlichkeit in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Damit ist der Auftrag verknüpft, in der Gegenwart und für die Zukunft eine menschenwürdige Welt zu gestalten.

Die vorliegende Studie dokumentiert Gewalt an Heranwachsenden, die in Kärnten von der Jugendwohlfahrt betreut und/oder im Gesundheitswesen in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts behandelt wurden. Aufgezeigt werden fortgesetzte Menschenrechtsverletzungen, die oft als unvorstellbar gelten und von denen heute viele Menschen wünschen, sie wären nie geschehen. Im Zentrum der Studie stehen zwei Institutionen, die ihrem gesellschaftlichen Auftrag zufolge – so müsste man annehmen – das Kindeswohl schützen sollten. Jahrzehntelang wurden sie jedoch für Hunderte Kinder und Jugendliche zu Orten unermesslicher Gewalt: das Landesjugendheim Rosental in Görtschach (Ferlach) und die Heilpädagogische Abteilung des Landeskrankenhauses Klagenfurt (vgl. Kap. 2). Ausgehend von diesen beiden Institutionen wird die Dimension dieses gewaltvollen Teils der österreichischen Geschichte sichtbar gemacht.

Die Akten der beiden Opferschutzkommissionen des Landes Kärnten (2013– 2015, ab 2020) und die vorliegende Studie zeigen in aller Deutlichkeit ein Systemversagen von (Sozial- und Gesundheits-)Politik, Sozialverwaltung und jenen Institutionen auf, deren Aufgabe die Betreuung, Heilung, Bildung und/oder Unterstützung von Kindern und Jugendlichen war. Mit dem bewegenden Landesakt „Geste der Verantwortung“ übernahmen im Januar 2020 der Kärntner Landeshauptmann Peter Kaiser und weitere LandespolitikerInnen nachträglich die politische Verantwortung für dieses Systemversagen gegenüber den ehemals von Gewalt betroffenen Menschen. Das Anerkennen der Gewalt als Menschenrechtsverletzung in dieser und anderen Veranstaltungen (u.a. in der Landesregierung, im Klinikum Klagenfurt und in der Alpen-Adria-Universität Klagenfurt) ist grundlegend, um gesellschaftliche (politische und fachliche) Veränderungen im Sinne der Kinderrechte und des Kindeswohls zu realisieren. Verantwortungsübernahme und menschenrechtsorientierte Handlungen ermöglichen, dass anstelle des täterloyalen (Ver-)Schweigens und des einvernehmlichen ‚Nicht-Erinnerns‘ die Stimmen hinter dem Schweigen hörbar werden: die Stimmen der damaligen Kinder und Jugendlichen und ihrer Familien. Dies ermöglicht eine Mehrperspektivität innerhalb des kollektiven Gedächtnisses in Kärnten und darüber hinaus auf nationaler Ebene, die mit Prozessen der Demokratisierung einhergeht.

Mittels Wertschätzung und Transparenz intendiert die vorliegende Publikation, demokratische Entwicklungen dort zu stärken, wo Kinder und Jugendliche im vergangenen Jahrhundert durch das Wirken von Jugendwohlfahrt sowie Kinder- und Jugendpsychiatrie Exklusion und Gewalt erlitten. Sichtbar wird dabei ein heilpädagogisches Gewaltregime in Kärnten und weiteren Teilen Österreichs, das auf Basis pseudowissenschaftlicher Theorien durch Medizin (Psychiatrie), Psychologie, Sozialarbeit und Pädagogik sowie Hochschulen, Politik und Justiz abgesichert wurde. Eine Orientierung an Menschen- und Kinderrechten setzt voraus, sich von der im vergangenen Jahrhundert in Österreich etablierten medizinisch-psychologischen Heilpädagogik zu verabschieden. Denn diese begründete ideologisch jenen Machtmissbrauch von Psychiatrie und Wissenschaft (vgl. Kap. 3 und 4), der den gesellschaftlichen Rahmen für die sprachlos machende Gewalt bildete, die diese Studie aufzeigt.

Gewalt an Kindern und Jugendlichen wurde seitens der Heilpädagogik durch missbräuchlichen Bezug auf ‚Kindeswohlinteressen‘, durch Verweise auf vermeintlich innovative Fachpraxen und Wissenschaftlichkeit sowie das Sammeln von gesellschaftlichen Ehrunge