1. KAPITEL
Jane Clark musste mitten in einem Albtraum stecken.
Warum sonst würde Liam Wright vor ihr stehen – in dem Restaurant in Savannah, das ihr Zufluchtsort geworden war, achthundert Meilen entfernt von den demütigenden Erfahrungen und schlechten Erinnerungen ihrer letzten Begegnung?
Normalerweise öffnete das Restaurant um fünf Uhr, aber Charles Weathersby, der Eigentümer desWila, hatte das gesamte Personal zu einer morgendlichen Besprechung zusammengetrommelt. Und warum um alles in der Welt war Küchenchef Liam Wright mit dabei, der mit seinem permanenten Stirnrunzeln die Stimmung im Speisesaal des Restaurants drückte?
Jane ballte die Hände zu Fäusten, sodass sich ihre Fingernägel ins Fleisch bohrten.
Nein. Das war kein Albtraum. Sie war hellwach!
Himmel!
Und wenn das kein schlechter Traum war, war es zumindest ein schlechter Witz. Das war die einzig mögliche Erklärung dafür, dass Liam hier in Savannah war anstatt in seinem New Yorker RestaurantLa Bula, wo er seine Untergebenen zu terrorisieren pflegte.
Jane ließ den Blick durch den Saal schweifen. Der schwarz-weiße Marmorboden und die schimmernden dunklen Holzwände kontrastierten mit dem Tageslicht, das durch die großen Fenster fiel, von den Spiegeln reflektiert wurde und sich in den Kristallleuchtern brach. Um diese Zeit hatte das Personal die Tische noch nicht für den Abend eingedeckt – mit den gestärkten weißen Tischdecken und dem edlen Geschirr sowie den Langhalsvasen mit einer einzelnen roten Rose auf jedem Tisch. Sie war so etwas wie das Markenzeichen desWila geworden und zierte nicht nur die Werbeanzeigen, sondern auch die Speisekarten.
Die vertraute Atmosphäre imWila empfand Jane als sehr beruhigend. Hier fühlte sie sich sicher und geborgen. Hier hatte sie sich auch schon bewährt. Die Fehler, die sie in der Vergangenheit gemacht hatte, kümmerten hier niemanden.
Dem Gemurmel ihrer Kollegen und Kolleginnen nach zu urteilen, die sich in dem kahlen Speisesaal versammelt hatten, wars sie nicht die Einzige, die sich über Liams Anwesenheit wunderte.
Charles klatschte in die Hände. „Jungs und Mädels“, begann er in seinem gedehnten Südstaatenakzent, „darf ich um eure Aufmerksamkeit bitten?“
Als das Gemurmel verebbte, fuhr er fort: „Danke, dass ihr trotz der kurzfristigen Ankündigung alle gekommen seid. Bestimmt kennt ihr Liam Wright, den Besitzer und Küchenchef desLa Bula in New York, Gewinner des renommierten Preises der Oscar-Hurd-Stiftung und einst Champion der ebenfalls preisgekrönten Fernseh-KochshowAmerica’s Best Chef.“
Liam schien sich in der Aufzählung seiner Leistungen zu sonnen, während er alle Anwesenden betrachtete – außer Jane. Sie wusste nicht, ob das etwas Gutes zu bedeuten hatte – oder ob er sie nicht erkannte. War es tatsächlich möglich, dass er sich nicht mehr an sie erinnerte? Wohl kaum. Vermutlich vermied er den Augenkontakt bewusst nach seinem Verhalten ihr gegenüber bei ihrem letzten Gespräch. Oder besser: bei ihrem letzten Streit.
Jane spürte Nadelstiche der Scham. Seitdem sie sich ernsthaft bemüht hatte, einen Schlussstrich unter ihr bisheriges Leben zu ziehen, war es ihr gelungen, das demütigende Gefühl zu ignorieren, das eine Zeit lang ihr ständiger Begleiter gewesen war. Charles war zufrieden mit ihrer Arbeit. Noch vor wenigen Tagen hatte er ihr mitgeteilt, dass nie zuvor so viele Desserts imWila bestellt worden waren. Sogar derSavannah Morning News war dies ein Artikel wert gewesen. Der Leiter des Ressorts „Essen und Trinken“ hatte sie interviewt und auch einen Fotografen mitgebracht, der einige ihrer kulinarischen Kreationen abgelichtet hatte. Das war eine nicht zu unterschätzende PR für sie selbst und auch für das Restaurant.
Die Dinge liefen g