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LEA
#imagine
Rauch? Lea schnupperte und blinzelte verschlafen. Als sie den Arm unter der Jacke hervorzog, wunderte sie sich über die Enge. Unwirsches Grummeln antwortete ihr. Erschrocken riss sie die Augen auf. Wer lag bei ihr im Bett? Wo war sie? Brannte es?
Mit einem Ruck setzte sie sich auf. Durch den Zelteingang reichte ihr eine Hand einen weißen Fetzen. »Gegen das Tränengas, ist besser, wenn du eine bei dir hast.« Eine Zigarettenlänge später tauchte ein grinsendes Mädchengesicht auf, Sommersprossen um die Nase, Strähnen hennaroten Haars fielen ihr in die Stirn. »Magst du Tee?« Das Gesicht war schon verschwunden, als Lea nickte. Sie rappelte sich auf, stopfte die Minigasmaske in die Hosentasche, langte nach ihrem Rucksack, erneutes Grummeln von der jungen Frau, neben der sie geschlafen hatte, ließ sie leise aus dem Zelt schlüpfen.
»Guten Morgen, Ti!« Ein verschmitztes Lächeln begrüßte sie zu ihrer neuen Identität. Der Sprayer von gestern Abend hockte auf dem Weg und malte an einem Plakat.
»Am ersten Tag Terroristen«, entzifferte Ti, »am zweiten Provokateure, am dritten …« Fragend schaute sie auf.
»Demonstranten«, erklärte er, »aber wichtig ist der vierte: Am vierten Tag wurden wir zum Volk!« Er lachte. Lea stimmte ein und nahm den Tee, den das Hennamädchen ihr reichte.
»Gibt’s hier irgendwo Simit oder Börek?«, fragte Lea. »Ich hab einen Bärenhunger, vor lauter Aufregung hab ich gestern glatt vergessen, etwas zu essen.«
»Und wir dachten schon, du bist Gezi-besoffen wie wir alle hier, als du gestern hier angetaumelt kamst. Übrigens, ich bin Tayfun.«
Lea grinste. Schwach erinnerte sie sich daran, dass sie am Vorabend mit dem Sprayer gehen wollte, aber einfach umgekippt war. Wie sie ins Zelt kam, wer die Mädchen waren, neben denen sie geschlafen hatte, war ihr schleierhaft. »Ich hol mal Simit«, sagte sie.
»Geh nicht zu einem der fliegenden Händler!«, rief das Hennamädchen.
»Aber …«
Das Mädchen wurde richtig streng, als sie erklärte: »Die meisten sind Polizeispitzel, immer noch! In Gezi heißt die Devise: kein Geld, kein Eigentum, alles ist für alle da!«
»Oder auch: nichts für niemanden!« Tayfun lachte. »Da vorn ist der Gezi-Supermarkt, schau mal, was du da findest.« Er wies mit dem Pinsel um drei Ecken, und Lea lief los, stolperte über Beine und Katzen, Heringe, Leinen und Decken. Alle drei Schritte blieb sie stehen, beäugte Graffiti, Aufkleber, Zettel mit Parolen oder Annoncen, lächelte Neuankömmlingen zu, beantwortete Fragen, stellte selber welche, lauschte einer Querflöte, sprang einer Gruppe junger Mütter bei, die von Kindern bemalte Laken zwischen Bäume spannten, während die Kleinen auf Steinen und Wegen weiterwerkelten, lehnte Zigaretten ab, reichte Wasserflaschen und Gasmasken von Hand zu Hand, wenn sie gerade durch eine Versorgungskette lief, staunte über ein Grüppchen, das mitten auf dem Pflaster sitzend meditierte, und fühlte sich als alte Gezi-Häsin. Endlich fand sie den Supermarkt.
»Willkommen im Çapulcu-Markt« stand krakelig auf einem Pappschild. Auf einer Pyramide aus Steinen lag alles, was das Herz begehrte, Schokoriegel, Saft, Cracker, Wasserflaschen, sogar Käse, Honig, Konfitüre in Portionsdosen. Oben hinter dem Pappschild drängten sich Plastiktüten mit Einkäufen und Mitbringseln für den fliegenden Marktplatz. Sie griff nach Keksen, hielt nach Obst aber vergeblich Ausschau. Gleich nachher würde sie irgendwo eine Riesentüte Obst besorgen, einen Apfel abzweigen und