: Claudia Beinert, Nadja Beinert
: Marilyn und die Sterne von Hollywood Roman
: Aufbau Verlag
: 9783841229564
: Mutige Frauen zwischen Kunst und Liebe
: 1
: CHF 9.70
:
: Gegenwartsliteratur (ab 1945)
: German
: 448
: Wasserzeichen
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB

Los Angeles, 1942: Normas Kindheit ist einsam, ihr Zufluchtsort das Kino, wo die Hollywood-Schauspielerinnen so viel selbstbewusster sind als sie. Mit ihrer arrangierten Ehe muss sie den Traum, selbst ein Star zu werden, aufgeben. Dennoch wird Jim ihre erste Liebe und erweckt ihre Sinnlichkeit. Dann will ein Fotograf sie als Fotomodell berühmt machen. Vor der Kamera sprüht Norma vor Lebendigkeit, alle Selbstzweifel sind vergessen. Und plötzlich weiß sie: Sie will ins Rampenlicht, nur das macht sie glücklich. Doch zuerst muss sie sich von den prüden Regeln ihrer Zeit emanzipieren, um die zu werden, die sie bis heute ist: Marilyn Monroe, die größte Ikone der Filmgeschichte. 



Dr. Claudia Beinert und ihre Zwillingsschwester Nadja sind in Staßfurt geboren und aufgewachsen. Beide studierten Internationales Management. Bevor Claudia ihre Leidenschaft für historische Romane zum Beruf machte, hatte sie eine Professur für Finanzmanagement inne. Sie lebt und schreibt in Leipzig. Nadja Beinert ist in Erfurt zu Hause. Die jüngere der Zwillingsschwestern ist seit mehreren Jahren in der Filmbranche tätig. Besuchen Sie die Autorinnen unter: www.beinertschwestern.de

Prolog


August 1934

Norma stand auf dem Hollywood Boulevard und schaute fasziniert zumGrauman’s Chinese Theatre hinüber. Den Eingang des tempelartigen Baus bildete eine in den Himmel ragende Pagode, deren Dach von furchteinflößenden Drachen gestützt wurde. Es war ein Gebäude wie aus einem Märchen, verzaubernd schön und einschüchternd zugleich. Etwas Beeindruckenderes als dieses Kino hatte sie in ihren acht Lebensjahren noch nicht gesehen. Sie war hin- und hergerissen, ob sie sich dem Gebäude weiter nähern durfte. In ihrer Erinnerung erklang die Stimme ihrer früheren Pflegemutter so real, als würde Ida Bolender direkt neben ihr stehen. »Wenn die Welt untergeht, und du sitzt in einem Kino, weißt du, was dann passiert?«, hatte Ida mit bebender Stimme gefragt. »Du verbrennst zusammen mit all den anderen bösen Menschen. Der Mensch soll in die Kirche gehen, nicht ins Kino! Nur dort ist er in Gottes Hand und wird beschützt.« Inzwischen lag es mehr als ein Jahr zurück, dass ihre einstige Pflegefamilie sie fortgeschickt hatte. Sie war ihnen zu schwierig geworden.

Als Norma jetzt ihre Hand tiefer in die ihrer Begleiterin schob, murmelte sie zur Sicherheit ein Gebet. Grace hatte sie an diesem heißen Sommertag ins Kino eingeladen und angekündigt, dass sie etwas Wichtiges mit ihr besprechen wolle. Wenn Erwachsene dies sagten, gab es meistens schlechte Nachrichten oder Strafaufgaben oder noch schlimmer: Sie musste nun wirklich ins Waisenhaus, die Drohung wurde wahrgemacht.

Eingeschüchtert schaute Norma an Grace hinauf. Grace McKee war die immer gut gelaunte Freundin ihrer leiblichen Mutter, die selbst keine Kinder hatte. Norma wohnte übergangsweise bei ihr, bis jemand sie wieder als Pflegekind aufnahm. Sie zuckte zusammen, wenn sie daran dachte, dass die meisten Pflegeeltern Babys oder Kleinkinder bevorzugten. Je jünger das Pflegekind, desto mehr Geld zahlte der Staat. Nur mit Mühe konnte Norma Tränen zurückhalten.

Grace drückte Normas Hand und lächelte liebevoll. »Bevor wir beide uns ernster miteinander unterhalten, sollst du endlich mal ein Kino von innen sehen. In einem Land, in dem es mehr Kinos als Kirchen gibt, ist das Teil unserer Kultur«, sagte sie und schwenkte ihren weißen Fächer erst vor ihrem und dann vor Normas Gesicht. »Das Leben darf auch unterhaltsam und fröhlich sein und nicht immer nur ernst und verbissen.«

Das klang zu unglaublich, zaghaft erwiderte Norma das Lächeln. Seit sie bei Grace wohnte, nahm die sich viel Zeit für sie und zeigte ihr Los Angeles. Und stets sah sie so hübsch aus. Heute trug sie ein fröhliches hellblaues Kleid mit weißen Punkten, das sogar ihre Fesseln freilegte. Ihr platinblondes Haar hatte sie sich in Wellen an den Kopf gelegt. So wirkte sie gar nicht wie eine Schnittmeisterin aus dem kleinenConsolidated Filmstudio, die in zwei Zimmern lebte, sondern ähnelte eher den Filmstars aus den bunten Magazinen, in denen Norma so gerne blätterte. Jeder mochte Grace, und niemals wurde sie übersehen, obwohl sie so klein und zierlich war. Wenn Norma Zeit mit ihr verbrachte, vergaß sie ihre traurige Vergangenheit. Grace meckerte nie, wenn Norma verzweifelt war und weinen musste, sondern tröstete sie liebevoll. Überhaupt zeigte Grace ihr häufig ihre Zuneigung, nahm sie in den Arm und kuschelte mit ihr. Noch nie hatte Norma so unbeschwerte und unterhaltsame Stunden verbracht wie mit Grace.

»Komm, Sweetheart«, sagte Grace und zog Norma an der Hand mit über den Hollywood Boulevard, der durch die kurzen Palmenschatten wie mit einer Bordüre verziert wirkte. Die kalifornische Nachmittagssonne brutzelte den Straßenbelag wie ein Frühstücksomelette. Seit Wochen schon lähmte eine Dürre Los Angeles.

Norma klammerte sich an die Hand von Grace, während sie aufGrauman’s zuging. Bei jedem Schritt drohte sie, mit ihren viel zu kleinen mexikanischen Sandalen am Asphalt der Fahrbahn kleben zu bleiben, während Grace mit wiegenden Hüften und auf Absätzen so hoch wie eine Fußbank neben ihr herschwebte.

»Ich möchte dir heute Jean Harlow vorstellen«, sagte Grace.

Zwar wusste Norma nicht, wer das war, aber es klang wie eine Verheißung. »Tante Grace, ich freue mich auf Jean Harlow«, sagte sie, obwohl sie zu gerne jetzt schon wissen wollte, was es später zu besprechen gab. Aber aus Angst, neugierig oder gar schwierig zu wirken, fragte sie nicht nach. Das Bild des Waisenhauses in Hollywoods El Centro Avenue stahl sich vor ihr inneres Auge.

»Jean ist die schönste und begabteste Schauspielerin, die wir in Hollywood jemals hatten«, schwärmte Grace. »Ihr neuer Film heißtMillionäre bevorzugt und hatte vor einer Woche Premiere. Du wirst sie mögen.«

Norma setzte gerade ihren ersten Schritt auf den Gehweg, als Grace mit ihrem Fächer auf die Betonplatten vor ihnen wies. »Hier haben sich Hollywood-Ikonen mit Hand- und Fußabdrücken verewigt.«

»Was ist eine Ikone?«, wollte Norma wissen und ging vorsichtig in die Hocke, um ihr einziges Sonntagskleid nicht zu beschmutzen.

»Eine Ikone ist eine sehr erfolgreiche Person, eine Schauspielerin, Sängerin oder Tänzerin, die für ihr Können von vielen verehrt wird, über Generationen hinweg«, erklärte Grace. »Das hier zum Beispiel sind die Abdrücke deiner Namenspatronin, der Schauspielerin Norma Talmadge, die deine Mutter für ihre Schönheit sehr bewunderte.«

Meine leibliche Mutter? Norma biss ihre Lippen fest aufeinander. Das Einzige, was ihr von der Frau geblieben war, war eine Fotografie, die ihren Vater zeigte: ein lächelnder Mann mit einem so schmalen Oberlippenbart, als wäre er mit einem Bleistift gezogen.

Vorsichtig zeichnete Norma den linken der beiden Handabdrücke im Beton mit ihrem Zeigefinger nach und wagte es sogar, ihre kleinen Hände hineinzulegen. »Ikone« murmelte sie ehrfürchtig vor sich hin.

»Du wirst langsam hineinwachsen«, sagte Grace und schenkte ihr ein Lächeln. Dann trat sie an das Kassenhäuschen und erstand die Eintrittskarten.

Norma zögerte kurz, ihre Karte an sich zu nehmen, griff dann aber doch zu. Wenn heute wirklich die Welt untergehen würde, verbrannte sie in einem Kino, von dem aus die nächste Kirche nicht einmal in Sichtweite lag. Aber wenigstens war sie bei Grace.

Normas Herz schlug schneller, als sieGrauman’s betraten. Mit geöffnetem Mund glitt ihr Blick über die getäfelte Decke, über die Teppiche an den Wänden und den kostbaren Boden. Was für eine bunte, glänzende Welt! Das prachtvolle Kino erinnerte sie an einen der Paläste aus ihrem Märchenbuch, aus dem die Bolenders sich geweigert hatten, ihr vorzulesen, weil die Bibel stets Vorrang hatte. Rot, Bronze und Gold, wohin sie nur schaute: golddurchwirkte Vorhänge mit Kordeln groß wie Plüschtiere, Bronzetröge, die aussahen wie Waschbecken, Türen mit kunstvollen Emblemen und Beschlägen, viel zu schwer, als dass sie sie gedrückt bekäme. Dass die Welt so farbenfroh, prächtig und leuchtend sein konnte, hätte sie sich nie träumen lassen. Vor Begeisterung schlug ihr Herz immer schneller, so dass sie zur Sicherheit die Hand vor ihre Brust legte. Sollte es herausspringen, wollte sie es auffangen.

»Hollywood ist die Welthauptstadt der Versuchung«, verkündete Grace und schritt so sicher voran, als befände sie sich in ihrem Wohnzimmer.

Eingehüllt in den Duft von gepopptem Mais und geschmolzener Butter, ging Norma an Graces Hand in den Kinosaal. Dort zeigte der Anweiser ihnen ihre Plätze in der fünften Reihe des nicht minder prächtigen Saales. Hier würden sämtliche Kinder ihrer Schule zweimal reinpassen, und nicht einmal die Kirchenräume der Pfingstgemeinde waren so angenehm kühl. Alles war wieder dicht mit Rot und Gold geschmückt. Der Fußboden war mit einem flauschigen Teppich ausgelegt, der Norma das Gefühl gab zu schweben. So ähnlich stellte sie sich den Weg ins Paradies vor.

Den Fächer schwenkend, schaute Grace sich in alle Richtungen um, als suche sie einen Bekannten unter den wenigen Anwesenden. Grace und ihre Freunde mussten reich sein, überlegte Norma, wenn sie in einer Zeit, in der die vielen Arbeitslosen für Brot und Maisbrei Schlange standen, die fünfzehn Cent für eine Eintrittskarte ins Kino übrig hatten.

Norma nahm auf dem Kinosessel neben Grace Platz. Sie war das einzige Kind im...