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Gerda
Zur Verlobung reisten Oscars Eltern aus Breslau an. Louis Troplowitz trug das Haar, das ihm auf dem Kopf fehlte, als weißen Vollbart im Gesicht. Er hatte gütige Augen und ein eher stilles Wesen. Seine Frau Agnes, deren Onkel mütterlicherseits Gerdas Vater war, war eine aristokratische Erscheinung. Vorstehende Wangenknochen, eine schmale Nase, die womöglich eine Spur zu lang war, perfekt geschwungene Lippen. Auch sie traf das Verlöbnis nicht unvorbereitet, und auch sie waren darüber höchst erfreut.
Für Gerda änderte sich nicht viel. Jeden Tag aufs Neue war sie von Oscars Klugheit und seiner Offenheit hingerissen, mit jedem Morgen, der über Posen heraufdämmerte, freute sie sich auf ein Leben mit ihm. Er kam jetzt jeden Abend nach getaner Arbeit zu ihr und ihren Eltern in die gute Stube. Und er hielt nun regelmäßig ihre Hand. Zur Feier der Verlobung hatte er sie zart auf die Wangen geküsst. Das erste Mal, dass sein Mund sie sanft berührte. Sie war gespannt, wie er sich auf ihren Lippen anfühlen würde. Zwischen Gerda und Oscar herrschte schon jetzt großes Vertrauen und ein tiefes Verständnis füreinander. Der Gedanke, dass neben der seelischen auch eine körperliche Nähe auf sie wartete, löste aufgeregten Schauder in ihr aus. Und Vorfreude. Sie waren einander nicht am Tag der Verlobung vorgestellt worden, wie es durchaus hier und da vorkam. Gerda kannte ihren Oscar aus Kindertagen. Sie wusste, was sie an ihm haben würde, und war sicher, dass sie ihm auch in diesen Dingen vertrauen konnte.
Eine Freundin hatte mal gesagt: »Welch ein Glück, dass ich schwanger bin. So habe ich im Schlafzimmer erst mal Ruhe vor meinem Mann. Auch im Bett geht es nur um ihn.«
Oscar war anders. Gerda war sich ganz sicher, dass er in jeder Hinsicht für sie der Richtige war.
Und noch eines wurde ihr rasch klar: Mit Oscar würde es niemals langweilig werden. Stets spukte ihm eine Idee im Kopf herum. Immer wieder kam er weit nach Geschäftsschluss aus der Apotheke und brachte Gerda ein Öl mit.
»Sieh mal, Mutzl, hier habe ich etwas für dich. Du musst deine Haut damit einreiben, bevor du zu Bett gehst. Jeden Abend. Und in einer Woche sagst du mir, ob das lästige Spannen weggegangen ist.«
An einem anderen Tag saßen sie zu viert beieinander, Oscar, Gerda und ihre Eltern. Beide Männer in verschiedene Teile der Wochenzeitung vertieft.
»In Hamburg sind die Arbeiter auf die Straße gegangen«, erklärte ihr Vater. »Diese Bewegung wird uns das Leben noch schwer machen, fürchte ich.«
»Nicht nur in Hamburg«, entgegnete Oscar. Er klang weniger besorgt. »Sie fordern eine Reduzierung der Arbeitszeit auf achtundvierzig Wochenstunden, nur noch acht Stunden am Tag.« Er nickte langsam. »Das ist ein starkes Stück, das muss man sich leisten können.«
»Meine ich auch«, stimmte ihr Vater ihm zu.
»Aber sie haben schon recht, auf lange Sicht muss die Arbeitszeit verringert werden. Was bleibt ihnen sonst für ihr Leben, für ihre Familien?« Oscar lächelte Gerda zu. »Trotz so mancher Maschine schuften viele noch immer hart. Sie brauchen Zeit, sich zu erholen. Denkst du nicht, Gustav? Je weniger Pausen, desto mehr Gebrechen, desto weniger Leistung.«
Meist runzelte Vater die Stirn oder brummte etwas, doch so ganz von der Hand zu weisen war Oscars Betrachtungsweise scheinbar nicht, denn sie gerieten sich nie in die Haare. Gerda liebte die gemeinsamen Stunden im Familienkreis, in denen sie nichts zu tun hatte, als Oscar zu beobachten, ihre Ohren zu spitzen oder sich vielleicht mal an einer kleinen Zeichnung zu versuchen. Der Umgang mit Farben machte ihr Freude, das Gefühl, auf einem weißen Bogen Papier etwas zu erschaffen, das ohne sie nie dort gewesen wäre, hatte etwas sehr Befriedigendes. Sie fand sich nicht sonderlich begabt und würde es nie zur Meisterschaft bringen. Wollte sie auch gar nicht. Sie zeichnete zu ihrem eigenen Vergnügen, das war alles. Manches Mal bekam sie kaum mit, worüber sich Oscar mit ihrem Vater unterhielt, weil sie in ein Buch vertieft war oder in einen Artikel in einem Magazin. Zum Beispiel über den Maler Edvard Munch, von dem gerade alle Welt sprach. Gerda konnte wenig mit seinen Bildern anfangen, sie erschreckten sie sogar. Dennoch, irgendetwas an diesem Künstler zog auch sie in seinen Bann. Das war es, was sie an der Kunst so faszinierte: Selbst wenn sie einem nicht gefiel, konnte sie eine Wirkung entfalten, der man sich nicht entziehen konnte.
An diesem Tag malte Gerda nicht, und sie steckte ihre Nase auch nicht in ein Buch. Mutter stickte, Vater las die Zeitung, auch Oscar war hinter seiner Lektüre verschwunden. Er las vi