1. KAPITEL
„Du liest Tschechow? Hast du vielleicht auch Tolstoi gelesen?“
Marianne Chambers hielt mit dem Korrekturlesen inne. Diese Frage hatte ihr schon einmal jemand gestellt, vor sehr vielen Jahren. Es war ein warmer Sommernachmittag gewesen, und sie hatte auf der Treppe vor der Kathedrale in Amiens gesessen und ein Buch von Anton Tschechow gelesen. Es war Sebastian Rodier, der sie damals mit diesen Worten angesprochen hatte. Aber war das wirklich möglich? Was suchte er im Cowper Hotel in London, in dem am folgenden Tag ein wissenschaftlicher Kongress stattfinden sollte?
Marianne hob den Kopf und blickte in das Gesicht jenes Mannes, der ihr Leben vor zehn Jahren völlig auf den Kopf gestellt hatte – Fürst Sebastian II von Andovaria! Er trug einen edlen Designeranzug und wirkte ganz anders als der junge Mann, der damals in Jeans und T-Shirt vor ihr gestanden hatte. Und er sah sogar noch attraktiver aus als auf den zahlreichen Fotos in Zeitungen und Magazinen, die Marianne im Laufe der Zeit von ihm gesehen hatte.
„Hallo, Marianne“, sagte er mit einem so charmanten Lächeln, dass sie eine Gänsehaut bekam.
Dieses Lächeln versetzte sie schlagartig in die Vergangenheit zurück: Sie war achtzehn Jahre alt, unsterblich in Sebastian verliebt und wartete in ihrer Gastfamilie in Frankreich vergeblich darauf, dass er sich nach seinem Abschied telefonisch bei ihr melden würde …
Wie oft hatte Marianne sich seitdem vorgestellt, wie es wohl sein würde, ihn wiederzusehen. Dabei hatte sie es natürlich nie für möglich gehalten, dass dies tatsächlich einmal wahr werden würde. Seit Sebastian aus Frankreich abgereist war, hatten sich ihre Wege nicht mehr gekreuzt. Auch hatte er in all den Jahren nach ihrer Trennung niemals Kontakt zu ihr gesucht. Aber welches Interesse hätte der Herrscher des Fürstentums Andovaria auch an einer unbedeutenden Wissenschaftlerin aus England haben sollen?
„Sebastian“, brachte sie endlich hervor. „Oder soll ich … dich jetzt Eure Hoheit nennen?“
„Sebastian reicht völlig aus“, erwiderte er amüsiert. „Schön, dich zu wiederzusehen. Wie geht es dir?“
„Gut, sehr gut“, erwiderte sie ein wenig zu schnell, da sie nicht wollte, dass er ihre Verwirrung bemerkte. „Und dir?“
„Mir geht es auch gut.“ Sebastian betrachtete sie prüfend. „Es ist sehr lange her, seit wir uns zum letzten Mal gesehen haben. Du siehst fantastisch aus.“
„Du … auch“, antwortete Marianne stockend, da sie kaum noch klar denken konnte. Sebastians unerwartetes Auftauchen brachte sie völlig aus der Fassung.
„Darf ich mich zu dir setzen?“
Am liebsten hätte Marianne Nein gesagt, doch da sie nicht unhöflich sein wollte, schob sie ihre Unterlagen zusammen, um auf dem Tisch Platz zu schaffen. „Natürlich.“ Dann blickte sie sich um und entdeckte zwei kräftige Männer in grauen Anzügen, die in etwa zehn Metern Abstand im Foyer standen – die Leibwächter des Fürsten.
„Wer sind denn die beiden dort drüben?“, fragte sie leicht spöttisch. „Patt und Patterchen?“
„Das sind Georg und Karl“, erklärte Sebastian amüsiert und nahm neben ihr Platz. „Bei uns in Andovaria spricht man seine Mitarbeiter mit Namen an, selbst wenn sie für die Fürstenfamilie arbeiten.“
„Ach, wirklich?“
„Jawohl, Andovaria ist nämlich ein modernes Fürstentum“, erwiderte er schmunzelnd.
Ein modernes Fürstentum, dachte Marianne bitter. Diese Erfahrung hatte sie vor zehn Jahren allerdings nicht gemacht. Seit ihrer Trennung hatte sie seinen Werdegang genau verfolgt. Durch die Berichte in Zeitungen und Hochglanzmagazinen wusste sie alles von ihm. Sie hatte Bilder von Sebastian beim Skifahren und Bergwandern gesehen, auf seinem Wohnsitz in Schloss Poltenbrunn, bei hohen gesellschaftlichen Anlässen und bei seiner Hochzeit mit Amelie von Saxe-Broden. Marianne war ebenfalls bekannt, dass er sich einige Jahre später wieder hatte scheiden lassen, denn alles, was mit dem Fürsten zu tun hatte, ging durch sämtliche Medien, sodass Marianne immer über sein Leben informiert war.
Sie holte tief Luft, um sich etwas zu beruhigen. „Was führt dich nach England? Steht vielleicht ein royales Event bevor, von dem die Öffentlichkeit noch nichts weiß?“
„Nein, nur ein Privatbesuch.“
„Wie schön für dich“, antwortete Marianne sarkastisch und kannte sich selbst nicht mehr. Wieso war si