KAPITEL 4
VANYA
Als ich aufwache, sitze ich noch immer auf dem Boden meines Schlafzimmers, das verbotene Buch im Schoß. Mit einem Gähnen reibe ich mir über die Augen und drücke den Rücken durch, ehe ich durch das Fenster hinauf in den Himmel schaue.
Ein weiterer Tag im Nirgendwo.
Manchmal stelle ich mir vor, dass ich einfach gehe. Dass ich den Turm hinabsteige, durch den Kräutergarten eile und das Dorf Korinth hinter mir lasse. Ich gehe hinaus in die Fremde, immer der Nase nach und erkunde Südgand, meine Heimat, die ich nie sehen durfte, ohne jemandem zu sagen, wohin mein Weg mich führt.
Und wenn ich mich besonders mutig fühle, male ich mir aus, dass es mich sogar nach Norden verschlägt, nach Nordgand – in das Reich der Magie und Legenden. Weit weg in ein Land, das kaum ein Südgander je betreten hat. Was es dort wohl für Kräuter gibt? Hier in Südgand kenne ich jeden einzelnen Grashalm, aber in Nordgand würde ich sicherlich jeden Tag etwas Neues entdecken. Neue Kräuter, neue Heilmethoden.
So viel Neues abseits des immer gleichen Trotts, der mein Leben bestimmt.
Allein die Reise nach Nordgand wäre ein Abenteuer. Hier in Korinth kenne ich niemanden, der bereits an der Grenze war, denn das Dorf ist so weit von Nordgand weg wie nur möglich, aber in Varenia habe ich einige Gespräche von Händlern aufgeschnappt, die ihre Waren an der Mauer verkaufen. Es heißt, unsere Reiche würde eben jene Mauer trennen, die so hoch in den Himmel reicht, dass man ihr Ende nicht sehen kann. Aber das ist unmöglich. Die höchste Mauer, die ich je gesehen habe, ist die um die Hauptstadt Varenia. Ich bezweifle, dass irgendeine Mauer höher sein kann. Und es heißt, dass die Nordgander keinem Südgander gestatten, ihr Reich zu betreten.
Bis auf eine Ausnahme: die Ausgewählten.
Alle drei Jahre findet eine Auswahl unter allen jungen Frauen Südgands statt, von denen drei nach Nordgand geschickt werden. Den genauen Grund kennt niemand, es wird aber erzählt, dass diese Tradition ein Teil der Friedensverhandlungen nach dem Großen Krieg war und seitdem fortgeführt wird. Mein Name kann aufgrund meiner Abstammung nie bei der Auswahl gezogen werden. Ich weiß nicht, ob ich mich darüber freuen oder traurig sein soll.
Niemand kann genau sagen, was mit den ausgewählten Mädchen passiert, doch die meisten von ihnen schreiben nach Hause und berichten von einem neuen Leben, das sie abseits der harten Feldarbeit und einem Dasein als arme Bauerntochter führen dürfen. Deshalb gilt die Auswahl eher als Chance denn Verdammung.
»Vanya?«, schallt es aus dem Erdgeschoss.
Ich erstarre eine zu lange Sekunde, ehe ich mich hastig aufrappele, das verbotene Buch zu den anderen in die Kiste lege und wahllos die Kleider darüber werfe.
»Komme«, rufe ich nach unten. Selbst in meinen Ohren klingt meine Stimme viel zu überdreht und aufgesetzt.
Ich habe völlig vergessen, dass meine Schwester Emillia heute vorbeischauen wollte. Oder vielmehr: Ich habe es verdrängt, denn sie kommt zweimal die Woche zu Besuch. Wenigstens scheint sie heute nicht ihren Ehemann mitgebracht zu haben.
Nicht auszudenken, wenn sie die Bücher in der Kiste fände … Dann wäre das Letzte, worum ich bitten könnte, dass sie mich in meinem Kräutergarten beerdigen. Der wissentliche Besitz solcher Bücher ist Hochverrat. In ihnen sogar zu lesen, ist … Was ist schlimmer als Hochverrat? Ich will es mir lieber nicht ausmalen.
Nachdem ich mich davon überzeugt habe, dass die Kiste sicher unter dem Bett verstaut ist und vom Eingang nicht entdeckt werden kann, mache ich mich mit wenig Elan auf ins Erdgeschoss. Mit jedem Schritt nimmt der Duft nach unzähligen Blumen und Kräutern zu, die ich dort unten aufbewahre und verarbeite. Ich liebe diese unvergleichliche Mischung.
Als ich unten ankomme, hat Emillia bereits alle Fenster aufgerissen.
»Wie hältst du diesen Gestank nur aus?«, murrt sie statt einer Begrüßung.
Auch das tut sie jedes Mal, wenn sie herkommt. Ich habe es schon vor Jahren aufgegeben, mit ihr zu diskutieren, und lächele auch diesmal nur entschuldigend.
Emillia ist meine vier Jahre ältere Schwester und von herausragender Schönheit – einer Prinzessin Südgands würdig. Obwohl sie einen Landadligen heiraten und mit in den südlichsten Zipfel unseres Reiches ziehen musste, sieht sie auch heute aus, als