Christian P. Hoffmann / Stephan Russ-Mohl
Mediale Zerreißproben für den Liberalismus – liberale Zerreißproben für den Journalismus
»Warum ist eigentlich immer der ›Neoliberalismus‹ an allem schuld?«, titelte jüngst fragend Rainer Hank, auch Autor eines Beitrags im vorliegenden Band, in derNeuen Zürcher Zeitung. Zahllose sozial- und geisteswissenschaftliche Schriften, Vorträge und Kolloquien, aber auch unzählige Artikel, Analysen und Kommentare in den Massenmedien obduzieren die Verfehlungen des Neoliberalismus: Armut, Klimakatastrophe, Wohnungsknappheit, Rassismus und Sexismus, Austerität, Demographie – kein Übel dieser Welt kann offenbar nicht auf den Neoliberalismus zurückgeführt werden.
Auf Twitter macht sich der Ökonom Holger Schäfer regelmäßig den Spaß, öffentlich geäußerte Vorwürfe gegenüber dem Neoliberalismus zu sammeln. Die lange Liste umfasst Schätze wie Körpergeruch, Selbstverwirklichung, Fitness, die 1990er-Jahre und Wiesbaden. Der Neoliberalismus ist heute so etwas wie der Beelzebub der progressiven Gesellschaftskritik – allgegenwärtig, nahezu allmächtig und doch kaum je zu fassen.
Als die Herausgeber dieses Bandes mit dem Gedanken zu spielen begannen, ein Werk zum Verhältnis von Journalismus und Liberalismus zu veröffentlichten, raunte ihnen schnell die Warnung entgegen: das dürfe aber nicht in einer Neoliberalismus-Apologetik enden, das zerstöre jede Akzeptanz! Liberalismus ja, Neoliberalismus nein – eine Zerreißprobe.
Der kritische Blick auf die öffentliche Debatte macht jedoch schnell deutlich: die Neoliberalismus-Kritik ist heute so weit verbreitet, so universell und ubiquitär, dass sie längst an Sprengkraft verliert. Auch unter Progressiven. Die Ablehnung des Neoliberalismus ist in Kreisen, die sich gerne als kritisch betrachten, so etwas wie eine Höflichkeitsgeste, eine Begrüßungssymbolik, die Zutritt gewährt.
Doch hitzige Debatten entbrennen und den Puls in Höhe jagen lässt heute eine andere Herausforderung, die allenfalls ein Derivat der Neoliberalismus-Kritik darstellt: die Identitätspolitik. Die auf Twitter aktiven öffentlichen Intellektuellen rollen allenfalls mit den Augen, wenn mal wieder ein Ordnungsökonom – typisch deutsch! – die Marktwirtschaft verteidigt. Ganz anders, wenn eine Journalistin die Seenotrettung von Flüchtlingen hinterfragt, ein Migrationsforscher die schleppende Integration von arabischstämmigen Einwanderern moniert, eine Soziologin Frauenfeindlichkeit im Islam thematisiert, ein Biologe behauptet, es gäbe nur zwei Geschlechter, oder eine Anzeige impliziert, sportliche Menschen lebten gesünder. Es sind diese Art der Äußerungen, die nach einem identitätspolitischen Muster als frauen-, migranten-, homosexuellen-, behinderten- oder übergewichtigenfeindlich kategorisiert werden können, die intensive und langanhaltende öffentliche Empörung auslösen.
Dürfen Social Media solchen Äußerungen eine Plattform bieten (›Hatespeech‹)? Sollen Journalisten sie thematisieren – und wenn ja, in welcher Form? Kritik an einer als sc