Prolog
Die Niederlande
Mai 1945
Lena lag wach im Bett und wartete. Es schien, als seien die Geräusche in der rabenschwarzen Nacht viel lauter als sonst. Sie hörte das leise Rascheln der Schattenmenschen, die unten im Bauernhaus durch die Dunkelheit krochen. Das Knarren des Scheunentors und das Flüstern des Heus, als sie in dieser mondlosen Nacht über die Tenne schlichen. Die Schattenmenschen warteten auch. War ihnen dieses Warten genauso verhasst wie ihr?
Der Krieg hatte Lena de Vries vieles zu tun gelehrt. Schwierige, unmögliche Dinge. Sie hatte gelernt, mutig zu sein, angetrieben von Angst und Glauben. Sie hatte gelernt, dem Tod ins Auge zu sehen und dabei die Hand des Heilands fest zu umklammern. Aber das Warten war die schwierigste Lektion von allen. Jede einzelne Minute kam ihr vor wie eine Stunde. Jede Stunde zog sich endlos hin. Am Tag stand die Sonne am Himmel still und nach jeder endlosen Nacht – wie dieser – ließ sie sich alle Zeit der Welt, wieder aufzugehen. Lena hoffte wider alle Vernunft, dass ihr Mann Pieter noch am Leben war, dass er nach Hause kommen und sie ihn irgendwann in die Arme schließen könnte. Oder dass ihre Tochter Ans und ihr Sohn Wim immer noch lebten und wohlbehalten zurückkommen würden. Sie wusste, wenn einer von ihnen durch die Tür kam, würde ihre Freude die langen Monate des Wartens wettmachen. Falls sie jemals zurückkehrten.
Die vergangenen sieben Tage waren die längsten in Lenas fünfundvierzig Lebensjahren gewesen. Eigentlich sollte der Frühling eine Zeit der Wiedergeburt und der Hoffnung sein, aber heute Nacht machte sich ihre Angst selbständig und presste alles Leben aus ihrem Herzen, sodass jede Hoffnung verlosch. Lena atmete seufzend aus und drehte sich im Bett um, während sie ein leises Gebet für Pieter und Ans und Wim flüsterte. Und für all die Schattenmenschen, die im Dunkeln mit ihr warteten.
An Schlaf war nicht zu denken. Lena hatte schon lange nicht mehr tief und fest geschlafen, eigentlich seit dem Tag vor fünf Jahren, als die Nazis einmarschiert waren. Sie stand auf, wobei sie sich Mühe gab, ihre beiden Töchter Maaike und Bep nicht zu wecken, die neben ihr im Bett schliefen, wo eigentlich Pieter liegen sollte. Ihre Mädchen hatte Lena in Zeiten wie diesen immer in ihrer Nähe. Sie zog einen Pullover über ihr Nachthemd und tastete sich hinunter, vertraut mit jeder schmalen Stufe der steilen Winkeltreppe. Am Fuß der Treppe blieb sie stehen. Ein Schatten huschte durch ihre Küche, als suchte er etwas. Ihr Herz machte einen Satz.
»Pieter?«, flüsterte sie.
Der Schatten drehte sich um. Es war Wolf, ihr Kontaktmann beim niederländischen Widerstand. Seinen richtigen Namen kannte sie nicht. So war es sicherer. »Habe ich dich geweckt?«, flüsterte e