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Heute vor einem Monat
Elena steckte ihr Wurfmesser in die Unterarmscheide und begab sich, auf der Suche nach Raphael, auf das Turmdach. Und da war er, ihr Erzengel. Deutlich hob sich seine Silhouette gegen die orangerote Glut der späten Nachmittagssonne ab, die die goldenen Filamente in seinen weißen Schwingen auflodern ließ.
Raphael vernahm Elenas Schritte hinter sich und drehte sich zu ihr um. Sie waren seit einer den Lauf der Weltgeschichte verändernden Kaskade in Liebe vereint, ihr Leben vom Tag ihres Kennenlernens an untrennbar miteinander verbunden, und dennoch raubte ihr der Anblick seiner leuchtend blauen Augen immer noch den Atem.
Ihr Herz gehörte diesem Mann, dem ebenso gefährlichen wie hinreißenden Erzengel von New York.
Kurz glaubte sie, das Legionsmal an seiner Schläfe aufflammen zu sehen, bis sie erkannte, dass es nur eine von der untergehenden Sonne hervorgerufene Illusion war. Elena spürte ein Ziehen in der Brust, sie konnte einfach nicht aufhören, nach diesem Lebensfunken Ausschau zu halten und darauf zu hoffen, dass diese seltsamen, uralten Krieger, die sich selbst geopfert hatten, um den Planeten vor der Herrschaft des Todes zu bewahren, eines Tages wiederauferstehen würden.
Raphael hielt ihr die Hand hin, und sie ergriff sie, bevor sie zusammen an den Rand der höchsten Dachterrasse von Manhattan traten und den Blick über die Metropole schweifen ließen. Fast ein Jahr lag der Krieg nun zurück, und der Wiederaufbau war noch immer in vollem Gang; schwere Baumaschinen prägten das Stadtbild, zahllose Kräne ragten wie die Ausgeburten übermäßig fruchtbarer Schreitvögel in den Himmel. Vier am East River gelegene Straßenzüge boten allen Bemühungen zum Trotz weiterhin ein schauriges Bild der Verwüstung, doch zumindest hatte das schlagende Herz von New York keinen bleibenden Schaden davongetragen und war dank des eisernen Willens seiner Bewohner – Sterblichen wie Unsterblichen, Menschen, Vampiren und Engeln – im Heilungsprozess begriffen.
Elena betrachtete das von lebendigem Grün überzogene Gebäude der Legion. »Ich habe mein Versprechen gehalten«, sagte sie mit gepresster Stimme.
»Ja, das hast du, Hbeebti.« Ein tröstlicher Kuss auf ihren Scheitel. »Du hast ihnen ihr Heim erhalten.«
Keiner von ihnen sprach die Sorge an, die Elena umtrieb, ihre Befürchtung, die einem Gewächshaus ähnelnde Residenz könnte für alle Zeiten nur noch ein leerer Bewahrungsort für das schwache Echo der siebenhundertsiebenundsiebzig wundersamen Krieger sein, die hier einst ein Zuhause gefunden hatten.
Jedoch waren die Legionäre nicht die Einzigen, die Elena verzweifelt vermisste. »Bitte sag mir, dass Aodhan bald heimkehren wird.« Der Engel stand Suyin seit deren überraschendem Aufstieg gegen Kriegsende als ihr Stellvertreter zur Seite.
Elena mochte Suyin, und sie wusste, dass diese um ihren Posten als Erzengel von China nicht zu beneiden war, trotzdem wünschte sie sich, Aodhan möge endlich nach Hause kommen, wo er von Leuten umgeben wäre, die ihn liebten. Er verließ sich praktisch auf niemanden und vertraute nur einem sehr kleinen Kreis, ein Vertrauen, das aufzubauen ihn viele Jahre gekostet hatte.
Elena konnte den Gedanken kaum ertragen, dass