Marlene
So hatte Marlene sich das nicht vorgestellt, als sie ihren Schwestern vorgeschlagen hatte, Vivienne noch einmal gemeinsam zu sehen. Sie hatte ihren Vater nach seinem Tod ein letztes Mal am offenen Sarg besucht, und das war völlig in Ordnung gewesen. Aber ein Mensch, der im Bett eingeschlafen ist, sieht anders aus als einer, der aus dem zweiten Stock gefallen ist. Das musste Marlene mit einem plötzlichen Schaudern feststellen. Ihre kleine Schwester war kaum wiederzuerkennen. Wenn sie nicht so hartnäckig darauf bestanden hätte, wäre Vivi einfach im zugenagelten Sarg in die Kapelle gestellt worden. Aber nein, was sie sich vornahm, das zog sie durch. Und nun stand sie zusammen mit ihren älteren Schwestern Caroline und Jule in dem fensterlosen Raum, in dem Vivi aufgebahrt lag. Es gab bestimmt Aufbahrungsräume, die mit Kerzen und bunten Glasfenstern Hoffnung verströmten, dieser Raum hingegen hätte keinen Preis für irgendwas gewonnen. Außer vielleicht für das größtmögliche Verbreiten von Tristesse. Marlene bereute in diesem Moment zutiefst, dass sie wieder einmal mit dem Kopf durch die Wand gewollt hatte.
Gerade mal eine halbe Stunde zuvor hatte sie die Schwestern mit ihrem Auto eingesammelt. Sie wollte rechtzeitig auf dem Friedhof sein, damit sie in Ruhe Abschied nehmen konnte, bevor die Trauergesellschaft kam, die egoistisch Aufmerksamkeit für den eigenen Kummer einforderte. Selbst Jule hatte es ausnahmsweise geschafft, überpünktlich vor dem Haus zu stehen. Und so konnten sie in ihrem Schmerz noch eine kleine Weile unter sich bleiben, noch einmal ein paar Minuten allein sein mit ihrer jüngsten Schwester Vivienne. Um die Wahrheit zu sagen, hatte Caroline überhaupt keinen Wert darauf gelegt, aber ihr war keine gute Ausrede eingefallen, deswegen musste sie nun auch den traurigen Anblick ertragen.
»Wenn wir uns nicht alle im letzten Jahr von ihr zurückgezogen hätten, wär das vielleicht nicht passiert«, sagte Jule schniefend zum wiederholten Mal. »Wir …«
»Quatsch«, unterbrach Caroline, die Älteste, sie scharf. »Der Typ ist schuld. Wenn der nicht diese Spielchen mit ihr gespielt hätte, dann hätte sie nicht so viel gesoffen, und dann müssten wir jetzt nicht an diesem verdammten Sarg stehen.«
»Wir hätten da erst recht für sie da sein sollen. Waren wir aber nicht«, konterte Jule noch einmal, bevor Marlenes bittender Blick sie erreichte. Sie hatten eigentlich ausgemacht, am Beerdigungstag die Schuldzuweisungen und Rechtfertigungen bleiben zu lassen.
Caroline wedelte sie beide mit einer ungeduldigen Handbewegung aus dem Raum. Ein bisschen mehr Pech und sie wäre es gewesen, die hier in einem Sarg gelegen hätte. Sie hätte sicherlich nicht so ramponiert ausgesehen, aber dafür mit einer großen Narbe auf der Brust. Nun gut, das war jetzt übertrieben, die Narbe war kaum zu sehen. Dennoch: Der Gedanke an den eigenen Tod machte sie dünnhäutig. In diesem Zustand wollte sie nicht streiten. Und außerdem – am offenen Sarg vor Vivi rumzuzicken fand selbst sie unpassend.
So machten sie sich zu dritt schweigend auf den kurzen Weg zu der kleinen Kapelle, vor der bereits einige Freunde von Vivi und ihr Ehemann Roberto warteten.
»Lieber Herr Rossa, liebe Familie, liebe Freunde von Vivienne, liebe Trauergemeinde! Wir sind heute hier zusammengekommen, um Vivienne Rossa auf ihrem letzten Weg zu begleiten. Es ist für die Hinterbliebenen immer schwer, wenn ein Mensch zu Gott berufen wird. Passiert es aber unter so tragischen Umständen und ist er so jung, ist es besonders traurig.«
Der Pfarrer bemühte sich redlich, tröstende Worte zu finden und die Verstorbene, die er persönlich g