EINS
Kurort Bad Lichtenberg
1930
Julian
Flirrend fielen die Sonnenstrahlen eines Frühsommertags durch die Blätter der Birken, die die Allee säumten und an deren Ende man die alte Villa der Familie Laverne erkennen konnte. Julian sah hinauf, ging ein paar Schritte den Weg hoch, blieb stehen, kehrte dann um. Er hatte am Telefon eine spätere Ankunftszeit angegeben, also erwartete ihn noch niemand, und genau das war es, was er gewollt hatte. Keine Freudentränen seiner Mutter Elisabeth, wenn sie ihn am Bahnhof vor allen Leuten in die Arme schloss, und auch keinen Schulterschlag seines Vaters Carl, der ihm versicherte, es sei ohne Bedeutung, dass er zweimal durchs Abitur gerasselt war, bevor er es mit größter Mühe beim dritten Anlauf geschafft hatte, während sein Zwillingsbruder Felix bereits seit drei Jahren in München studierte. Diese emotionalen Szenen konnten noch warten.
Sein Gepäck hatte er schon vorausgeschickt, und so lief er schnell zurück auf die Hauptstraße, sah hoch zumGrand Hotel Deutscher Kaiser, dessen alleinige Besitzerin seine Cousine Luise war. Sein Blick blieb an dem legendären Westflügel hängen, der in seiner früheren Schönheit neu erstrahlte. Nach zwölf Jahren Wiederaufbau waren am Tag zuvor das Gerüst und die Planen endlich entfernt worden. Nun gehe es mit einem berühmten Architekten an die Innenausstattung, hatte sein Vater ihm am Telefon erzählt. »Du weißt ja, vier Jahre nach dem Krieg haben wir den Ostflügel mit der Halle und einigen Räumen wieder eröffnen können, aber der Westflügel ist der große Teil des Hotels, der vor dem Krieg den internationalen Ruf eines Luxushotels begründet hat. Hoffen wir, dass wir bald wieder zu den berühmten Hotels in Europa gehören werden.«
Julian musste lächeln. Sein Vater Carl identifizierte sich immer noch mit dem Hotel, an dem er Anteile besessen, die er aber vor einigen Jahren an Luise abgegeben hatte.
Julian überquerte die Straße und ging direkt ins Kurhaus mit seinem gewölbten Glasdach. Nur wenige Gäste standen in der Wandelhalle um die Brunnen herum und tranken gelangweilt das Heilwasser aus Bechern. Nichts schien geblieben von der Eleganz der Vergangenheit, als ein Pianist nebenan im Restaurant Palmengarten am Flügel leichte Melodien gespielt und die Kurgäste in der Wandelhalle aus geschliffenen Gläsern das Wasser getrunken hatten, gereicht von Kellnern im Frack. Die Damen waren damals in ihren Kreationen der Pariser Couturiers durch die Halle flaniert und hatten angeregt den neuesten Gesellschaftsklatsch ausgetauscht. Doch das war Vergangenheit, damals, als das Hotel nochGrand Hotel hieß, bevor es während des Großen Kriegs inDeutscher Kaiser umbenannt worden war. Julian blieb unentschlossen stehen und sah hinüber ins Restaurant mit den vielen Palmen und dem plätschernden Springbrunnen.
Auch hier schien es wie früher und doch anders – war es die Stimmung, das Fehlen der eleganten Gäste, die das Flair dieses Kurorts bestimmt hatten?
Das Leben ist Veränderung – dies war der Lieblingssatz seines Vaters Carl, der bei Julian Unbehagen auslöste. Wie würde sich sein Leben nach den Jahren im Internat verändern, was erwartete sein Vater von ihm, was erwartete er selbst? Er hatte keine Ahnung. Zögernd wandte er sich ab und ging in den »Exotenraum«. In der Mitte erhob sich der gläserne Pavillon, und um ihn herum war ein kleiner Garten angelegt, in dem zwei Pfaue auf und ab stolzierten. Auch hier schien alles wie früher zu sein, die exotischen Vögel tummelten sich im Pavillon, zwitscherten, krächzten, stritten sich.
»Wenn du den blauen Papagei suchst – er ist gestorben.«
Überrascht drehte sich Julian um. Hinter ihm stand eine sehr junge Frau, deren graue Augen ihn forschend betrachteten.
»Kennen wir uns?« Julian war verlegen, weil sie ihn einfach duzte.
»Ich bin Olga«, betonte sie, während der Blick ihrer grauen Augen ihn nicht losließ.
»Tut mir leid, aber ich erinnere mich nicht an dich.«
»Du und dein Bruder, ihr wart die frechen Jungs, die mich immer geärgert haben. Am Bahnhof. Ihr wart beide Pfadfinder«, half sie ihm