INTRO
Es geschah2012.
Von einem Tag auf den nächsten waren sie wieder da: Gottheiten.
Und zwar diealten Gottheiten.
Jene, welche die Bibel mitDu sollst keine anderen Götter haben neben mir meinte – und deren Existenz die Heilige Schrift der Christen niemals leugnete. Oder in Abrede stellte.
Im21. Jahrhundert rechnete jedoch niemand damit, dass die Gottheiten zurückkehren würden. Mitten hinein in das, was man Realität nannte.
Sie ritten aus den Himmeln.
Sie stiegen aus Pyramiden und Tempeln, Schreinen und Heiligtümern, aus Wäldern, Sümpfen und Nebeln.
Sie sprachen zu den Ihren – überall.
Die Meldungen über Sichtungen und über die Wunder, die sie vollbrachten, häuften sich.
Egal, ob Manitu oder Mictlancihuatl oder Anubis, ob Odin und Thor, ob namenlose Naturgottheiten oder Legenden wie Mars und Hephaistos, ob Olorun, ob Erdmutter und Loa, ob Shiva oder Kami oder Manifestationen Buddhas oder Cai Shen – sie existierten.
Manche Gottheiten traten vor Kameras, gaben Interviews und machten damit denen Mut, die immer an sie geglaubt hatten und deswegen verspottet worden waren.
Manche Gottheiten eroberten sich ihre alten Kultstätten zurück, auf die vor allem die Christen ihre Kirchen gestellt hatten. Prächtige Bauten wurden dem Erdboden gleichgemacht und durch einstige Gebäude ersetzt.
Manche Gottheiten lebten unter den Sterblichen, in alten Tempeln oder in neu errichteten Anlagen, in Hochhäusern, in unterirdischen Bunkern oder kilometerhohen Türmen.
Manche von ihnen gründeten Firmen, um ihren Einfluss in der Welt der Sterblichen auszuweiten; sie mischten sich in den Wertpapierhandel ein und betätigten sich in der Wirtschaft. Die Konzerne hatten ein enormes Interesse daran, mit den Entitäten ins Geschäft zu kommen.
Manche Gottheiten nahmen Ausgewählte mit auf andere Planeten. Von dort brachten sie Andenken mit, und gerüchteweise errichteten sie vor Ort Gebäude, um dort zu verweilen.
Und siehe, eine neue Ära begann: Aus Glaube wurde Wissen.
Nur die Christen, die Moslems und die Juden warteten vergebens.
Kein Gott, kein Allah und kein Jahwe.
Keine Engel, keine Dämonen.
Nicht einmal der Teufel erschien.
Die einst mächtigsten Religionen der Historie schrumpften zu Sekten ohne Gott. Ihre Anhänger wurden verlacht und verspottet. Es folgten Massenkonvertierungen und Kriege, bis sich das Gefüge neu eingepasst hatte.
So änderte sich die Welt.
Doch Interpol-Ermittler Malleus Bourreau ist Atheist geblieben – in einer Welt, in der es vor Gottheiten nur so wimmelt.
Er ist gut in seinem Job, denn er hat keinen Respekt.
Nicht vor Menschen und nicht vor Göttern …
PROLOG
Germanien, Freistaat Sachsen (germanischer Teil), Lipsk (Leipzig), Dezember2019
Miles Karak vermaß den neuen Kunden in seinem Schneideratelier akribisch mit einem abgenutzten Maßband, das zwischen seinen Fingern millimetergenau hin und her glitt; dabei plauderte er entspannt über dieses und jenes wie ein Barkeeper mit einem Thekengast, der zum ersten Mal in seinem Leben einen Cocktail bestellen wollte.
Gewiss konnte man Menschen auch in Kabinen stellen und sie binnen Sekunden von Lasern abscannen lassen, während Nähroboter innerhalb einer Stunde die gewünschte Kleidung zusammenschnitten, doch das war nicht die Art Kundschaft, die Miles schätzte oder in seinem Laden willkommen hieß. Seines Erachtens bestand ein menschliches Wesen nicht nur aus Zahlenkolonnen, Körperregionen und Maßeinheiten, sondern hatte individuelle Besonderheiten, die ein Schneidermeister wie er erkannte, sobald er Leute beim Gehen, in der Bewegung, im Gespräch beobachtete. Solche Dinge spielten bei der Anfertigung eines Anzugs, eines Kleides, eines neuen Kleidungsstücks eine Rolle, damit der Stoff am Ende perfekt saß. Miles selbst war gekleidet in eine schwarze Hose, ein weißes Hemd und ein dunkelgrünes Gilet.
»Wir sind gleich so weit, geschätzter Herr Tipota«, sagte er mit seiner stets heiser klingenden Stimme und prüfte, was er sich notiert hatte. Er kniete neben dem Mann und wirbelte das Maßband. Am Boden lagen Notizblöckchen und Bleistift. Das Nadelkissen saß an seinem Oberarm, denn am Handgelenk wäre es ihm im Weg. »Ich hoffe sehr, es ist nicht zu anstrengend für Sie?«
»Überhaupt nicht«, erwiderte der breit gebaute Keno Tipota, der die Prozedur stoisch über sich ergehen ließ. Der langhaarige, blonde Mann war um die dreißig und hielt seinen Körper vorbildlich in Form. »Hatte es mir nerviger vorgestellt.«
Auch wenn der Name ungewöhnlich klang, vernahm Miles keinen ausländischen Akzent. Er korrigierte seine Aufzeichnungen bezüglich des Hosensaums um einen halben Zentimeter. Dass sein Neukunde einen recht günstigen Anzug von der Stange und billige Schuhe trug, übersah er höflich. Jeder kam irgendwann das erste Mal zu ihm.
»Das freut mich«, sagte er.
»Ist das Tabak und Leder?«
»Bitte?«
»Ihr Duftwasser. Es riecht sehr … ungewöhnlich. So was suche ich schon seit Jahren.«
»Der Hauch von Oudh rundet es ab, mein Herr.« Miles lächelte und nahm das Blöckchen samt Stift zur Hand, richtete sich auf und strich seine braunen Haare glatt. Er war mit seiner schlanken Erscheinung das perfekte Abbild eines Schneiders. »Ich nenne esŒuvre Noir. Bei der Suche nach Ungewöhnlichkeiten sind Sie beiKarak et Frères genau richtig. Darf ich Ihnen eine Probe davon abfüllen?«
»Oh, das wäre mega.«
Miles drehte sich etwas zur Seite, damit Tipota sein Grinsen nicht sah. Das Wortmega fiel nicht oft in seinem Geschäft, das in einem Durchgang von Barthels Hof lag. Die Fassade