Enna
Kleine Mädchen träumen.
Sie träumen von Königinnen und Zauberfeen, von Magie, großen Schlössern und Palästen. In ihrer Vorstellung rettet der Prinz seine Prinzessin vor den Monstern, die sie verfolgen, während sie ihn zugleich von seinen eigenen Dämonen befreit. Die Mädchen wünschen sich, dass all die Märchen wahr werden, die ihnen jeden Abend vorgelesen werden. Vielleicht träumen sie auch davon, auf einem riesigen Drachen zu reiten, mit Schwertern zu kämpfen und als starke Heldinnen aus diesen Kämpfen hervorzugehen.
Vor langer Zeit war auch ich eines dieser Mädchen, jedoch musste ich nicht nur von meinem Prinzen träumen — ich hatte ihn immer bei mir, wir gingen Hand in Hand durchs Leben.
Es mag sich kitschig anhören, aber: Mein bester Freund Finn war mein Retter, mein Beschützer. Ich war sein Anker, seine Vertraute. In unserer Welt bekämpfte er die Monster, die mich nachts verfolgten, und ich stand dabei an seiner Seite, was auch geschehen mochte. Er war es, der mir jeden Abend eine Geschichte vorlas. Die bösen Monster, die um uns herum ihr Unwesen trieben, konnten mir dann nichts mehr anhaben. Die Dunkelheit, die uns umgab und die mich in Angst und Schrecken versetzte, wurde verdrängt von seiner warmen und beruhigenden Stimme, durch die ich mich in eine andere Welt träumte. In eine Welt, in der die Angst keinen Platz fand.
Jeden Abend war es eine andere Geschichte, in die er mich entführte. Finn erzählte mir von Alice, die einem Kaninchen in seinen Bau folgte und gleich darauf in eine magische Welt fiel. An einem anderen Tag las er vom Wunderkind Matilda, das sich mit drei Jahren das Lesen selbst beibrachte, oder von der Holzpuppe Pinocchio, die sprechen konnte.
Meine liebste Erzählung war die eines Kindermädchens, das mit einem Schirm geflogen kam und die Kinder in magische Abenteuer begleitete. Diese Geschichte lasen wir am häufigsten und obwohl ich sie irgendwann auswendig konnte, zauberte sie mir immer wieder ein Lächeln ins Gesicht — das tut sie noch heute.
Während Finn mir vorlas, kuschelte ich mich eng an ihn. Manchmal schlief ich währenddessen ein, doch meistens waren die Geschichten so spannend, dass ich ihm stundenlang zuhörte.
Finn und ich waren unzertrennlich. Er wusste genau, wann ich seine Nähe brauchte, er war es, der mich jeden Tag zum Lachen brachte. Dieser kleine Junge war mein Fels, mein bester Freund, der große Bruder, den ich nie hatte und mir doch immer so sehr gewünscht habe, mein liebster Mensch auf Erden. Mit ihm war alles leichter, bei Finn konnte ich einfach ich selbst sein. Jeder Tag mit ihm war ein Geschenk. Er war mein Licht in der Dunkelheit. Ich war mir sicher, dass er für immer bei mir bleiben würde, um meine Welt zum Leuchten zu bringen.
Bis dieser eine Tag im November meine Welt in Stücke zerriss, indem er mir die Menschen nahm, die ich am meisten liebte. Die wenigen Sekunden, in denen sich alles drehte, fühlten sich für mich wie Stunden an. Was blieb, waren nur Bruchstücke meiner Erinnerungen: ein lauter Knall, das Geräusch von splitterndem Glas und ein Schrei, von dem ich nicht mehr weiß, ob es mein eigener war. Schließlich das Aufheulen von Sirenen und ein unendlicher Schmerz in meinem Körper und in meinem Herzen. In der Zeit danach hätte ich meinen besten Freund, den Jungen mit den vielen Locken, am meisten gebraucht.
Doch er war nicht mehr da.
Mit einem Schlag hatte ich zwei der Menschen verloren, die mir die Welt bedeuteten. Einer war für immer gegangen, der andere nur aus meinem Leben verschwunden, und dennoch schmerzten beide Verluste in gleichem Maße. Nach und nach rappelte ich mich auf und versuchte, wieder das Mädchen zu werden, das ich einmal gewesen war. Ein Mädchen, das Träume hat, sich sicher und geborgen fühlt.
In gewisser Weise gelang es mir, mich selbst nicht komplett zu verlieren, irgend