Alles hat sein Wunderbares, selbst die Dunkelheit und das Schweigen, und ich lerne, zufrieden zu sein, egal in welchem Zustand ich mich auch befinden mag.
Helen Keller
Wer hat Angst vor der Dunkelheit?
»Schhhhhhhh … habt ihr das gehört?« Wie dunkle Wolken am ansonsten sonnigen Himmel zieht Verunsicherung über die Gesichter der zwanzig leicht in Panik geratenen Grundschulkinder, die sich näher an mich, den Guide auf ihrer Nachtwanderung, herandrängen. »Das war der Ruf eines Waldkauzes. Sollen wir mal versuchen, ihn zu finden?«, frage ich die kleinen Ausflügler.
»Ja, ja, ja!«, antworten die Kinder flüsternd. Angesichts der Aussicht auf einen nächtlichen Ausflug in den Wald – ohne Taschenlampe – können sie ihre Angst und Aufregung kaum im Zaum halten. »Wir wollen dafür nur unsere Nachtsicht benutzen«, hatte ich ihnen vorher gesagt, »zumindest auf dem ersten Teil der Strecke. Ihr werdet staunen, wie viel ihr in der Dunkelheit sehen könnt, wenn eure Augen keinem künstlichen Licht ausgesetzt waren.«
Nachdem wir uns metaphorisch in einen »Schleier des Schweigens« gehüllt haben, machen wir uns wie eine kleine Schar junger Rebhühner in gedämpfter Aufgeregtheit auf den Weg ins Dickicht. Auf der Suche nach Rückversicherung schiebt sich eine kleine Hand in die meine – Jessica hat noch nie eine Nacht ohne Licht verbracht, erst recht nicht im Wald, dem Ort der Märchen und Sagen. Nach dem anfänglichen Prahlen am hellen Lagerfeuer sind die Kinder jetzt, in diesem Schwellenmoment ihres Lebens, eher kleinlaut, voller Respekt, was sie auf ihrem ersten nächtlichen Streifzug in der Dunkelheit, ihrem Aufspüren der Wildnis mit Augen und Ohren, wohl erwarten wird.
»Ich sehe nichts!«, quengelt William, und so gehen wir langsamer, damit seine Erwartungen das, was er tatsächlich erlebt, einholen können. Schließlich erreichen wir eine kleine Lichtung, die unter großzügig ausgebreiteten Buchenästen liegt.
»Das habt ihr gut gemacht«, lobe ich die Kinder. »Ihr habt den Pfad allein mit dem Licht der Sterne und des Mondes bewältigt, genau wie einige der nachtaktiven Tiere, die wir suchen. Und jetzt seid ganz ruhig und hört zu«, fahre ich flüsternd fort, während sich 42 Ohren der geheimnisvollen Stille öffnen.
Kurz darauf flüstert Harriet: »Ich höre gar nichts.«
»Genau!«, erwidere ich. »Habt ihr vorher schon malgar nichts gehört?« (Auf dieses Stichwort werden stumm die Köpfe geschüttelt.) »Tja, Jungs und Mädels: Das ist der Klang der Stille. Der Klang des Nichts … Bis irgendein Wesen der Nacht die stumme Bühne betritt. Was, denkt ihr, werden wir auf unserem nächtlichen Waldspaziergang hören?«
Neugierige zu unterrichten, das können alle Eltern und Pädagogen bestätigen, ist etwas völlig anderes, als Gleichmütige zu unterrichten. Der Aufenthalt unter freiem Himmel, insbesondere in einem artenreichen Naturschutzgebiet, regt die Sinne des Besuchers immer an, vorausgesetzt natürlich, das Wetter spielt mit.
Im Gegensatz zur gewohnten Umgebung des Hauses und des Klassenzimmers ruft ein natürliches Umfeld bei Kindern andere Reaktionen hervor, Reaktionen, die nicht vollständig vorhersagbar sind. Kinder, die wir in- und auswendig zu kennen glauben, können auf völlig unerwartete Weise auf neue Reize reagieren – eine gute Erinnerung daran, dass wir uns von Lernenden durchaus auch einmal überraschen lassen sollten.
Im Schutz der Dunkelheit verwandeln sich vertraute Umgebungen in etwas Geheimnisvolles. Das Gelände, in dem wir uns bei Tageslicht so gut auskennen, nimmt nachts eine andere Gestalt an, und so ist unsere Gleichmut im Nu vergessen, haben wir erst begonnen, dieses »neue« Terrain zu erkunden. So kann selbst das eigene Wohnzimmer nachts zum Abenteuerspielplatz