Einführung
Alles, was wahr ist, lässt sich zeigen
Es war Sommer 2012. Ich eilte den schmalen, von Neonlicht erleuchteten Gang des Instituts für Psychiatrie an der medizinischen Fakultät der Columbia University entlang, in einer Hand balancierte ich den Kaffee und in meinem Kopf überschlugen sich die Gedanken. Heute sollte unser MRT-Team endlich die Ergebnisse monatelanger Forschungsarbeit zu Gesicht bekommen. Im Flur holte mich unser Statistiker Ravi ein. Er machte große Augen, und auf seinem normalerweise gelassenen Gesicht lag ein erstaunter Ausdruck. In seinen zitternden Händen hielt er einen Stapel Papier.
»Ich habe die Daten mehrmals analysiert«, sagte er. »Das Ganze ist sehr überraschend.«
Unser Team hatte seit fast einem Jahr viele Stunden intensiv an der Entwicklung und Umsetzung einer innovativen Studie gearbeitet, um einen Blick ins Gehirn zu werfen und mehr darüber in Erfahrung zu bringen, wie sich Depressionen verhindern lassen. Ravi hatte am meisten mit den Maschinen und der Statistik zu tun, drückte ununterbrochen irgendwelche Knöpfe, sammelte Daten, modellierte die Ergebnisse und stellte Berechnungen an. Heute würde er uns einen ersten Blick auf die Resultate gewähren, der uns verraten würde, ob die Spiritualität eine Rolle bei der Depressionsprophylaxe spielt. Ich liebe die Wissenschaft und alles, was dazugehört – das Drängen und Locken einer Frage, die Herausforderung und das strenge Vorgehen auf der Suche nach der besten Möglichkeit zu testen, was wahr ist. Aberdiesen Aspekt der Wissenschaft, die erste Auswertung der Daten, mag ich ganz besonders. Sie würde uns einen ersten spannenden Eindruck davon vermitteln, in welche Richtung die Zahlen weisen. Wir hofften, er würde uns eine neue Möglichkeit erschließen, psychisches Leiden zu lindern.
Wir leben in einer Zeit nie dagewesenen psychischen Leids. Angst, Depression und Suchtmittelmissbrauch haben weltweit epidemische Ausmaße erreicht. Im Jahr 2017 gaben 66,6 Millionen US-Amerikaner – über die Hälfte der Befragten beim National Survey on Drug Use and Health (etwa »Nationale Erhebung zu Drogenkonsum und Gesundheit«) – an, innerhalb des letzten Monats bis zum Rausch getrunken zu haben, und 20 Millionen erfüllten die Kriterien einer Drogenabhängigkeit.1 31 Prozent der erwachsenen Amerikaner werden irgendwann im Laufe ihres Lebens, 19 Prozent im jeweiligen Jahr eine Angststörung entwickeln.2 Laut Weltgesundheitsorganisation (WHO) leiden 264 Millionen Menschen auf diesem Planeten unter Depressionen.3 Bei den durch Arbeitsunfähigkeit verursachten Kosten steht die Depression an dritter Stelle,4 und jedes Jahr leiden 17 Millionen Amerikaner darunter. Aktuell haben über 16 Prozent der spätpubertären Jugendlichen eine Depression,5 und depressionsbedingte Suizide sind diezweithäufigste Todesursache bei Jugendlichen.6 Nur die Todesfälle aufgrund von Autounfällen kommen dem gleich.
An der Columbia University, an der ich unterrichte, nahmen sich in den Jahren 2016 und 2017 acht Studierende das Leben. Bei einer im Jahr 2019 veröffentlichten Studie mit über 67 000 Studierenden an 108 Studieneinrichtungen in den USA gaben20 Prozent an, sich selbst verletzt, etwa geritzt zu haben,24 Prozent