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Herr und Meister
»Einen Kaffee, bitte.«
Die Kellnerin hob skeptisch die sorgfältig nachgezogenen Augenbrauen. »Sie wollen nix essen?«, fragte sie. Ihr ausländischer Akzent war ebenso deutlich zu hören wie ihre Enttäuschung.
Simon Lewis konnte es ihr nicht verübeln; wahrscheinlich hatte sie auf ein besseres Trinkgeld gehofft als das, das sie von einer einzelnen Tasse Kaffee erwarten konnte. Aber schließlich war es nicht seine Schuld, dass Vampire nichts aßen. Manchmal bestellte er in einem Restaurant einfach irgendetwas, nur um den Eindruck von Normalität zu wahren, aber an diesem Dienstagabend imVeselka schien ihm das Ganze nicht der Mühe wert, zumal sich kaum andere Gäste im Lokal aufhielten. »Nur den Kaffee, bitte.«
Achselzuckend nahm die Kellnerin die laminierte Speisekarte an sich und ging zur Theke, um seine Bestellung aufzugeben. Simon ließ sich gegen die harte Lehne des Plastikstuhls sinken und schaute sich um.Veselka, ein Restaurant an der Kreuzung von Ninth Street und Second Avenue, zählte zu seinen Lieblingsorten in der Lower East Side – eines jener alteingesessenen Esslokale mit schwarz-weißen Malereien an den Wänden, in denen man ganze Tage ungestört sitzen konnte, solange man nur alle halbe Stunde einen Kaffee bestellte. Außerdem gab es hier die besten vegetarischen Piroggen und Simons absoluten Lieblings-Borschtsch … aber das lag ja nun unwiderruflich hinter ihm.
Es war Mitte Oktober, und das Personal hatte gerade die Halloween-Dekorationen angebracht – ein wackliges Schild mit der Aufschrift »Gib mir Borschtsch, sonst setzt es worscht!« und einen Pappkarton-Vampir namens »Graf Blinula«, in Anspielung auf ein typisches Gericht auf der Speisekarte. Einst hatten Simon und Clary die schäbige Deko irrsinnig komisch gefunden, doch der Graf mit seinen falschen Vampirzähnen und dem schwarzen Umhang erschien ihm inzwischen nicht mehr ganz so lustig wie früher.
Simon warf einen Blick aus dem Fenster. Draußen war es dunkel, und eine kräftige Brise blies trockenes Laub wie buntes Konfetti durch die Second Avenue. Ein junges Mädchen schlenderte über den Gehweg, ein Mädchen in einem eng geschnürten Trenchcoat, mit langem schwarzem Haar, das im Wind wirbelte. Sämtliche Passanten, denen sie begegnete, blieben stehen und drehten sich nach ihr um. Auch Simon hatte früher solchen Mädchen nachgeschaut und sich im Vorbeigehen gefragt, wohin sie wohl gingen und mit wem sie verabredet waren. Jedenfalls nicht mit Jungs wie ihm, so viel war mal sicher.
Doch auch was das anging, hatten sich die Zeiten geändert: Dieses Mädchen war tatsächlich mit ihm verabredet. Die Schelle an der Eingangstür des Lokals bimmelte, als die Klinke heruntergedrückt wurde und Isabelle Lightwood das Restaurant betrat. Sie lächelte, als sie Simon sah, marschierte schnurstracks auf ihn zu, ließ den Mantel von den Schultern gleiten und drapierte ihn zusammen mit ihrem schwarzen Seidenschal über die Stuhllehne, ehe sie sich an den Tisch setzte. Unter dem Trenchcoat trug sie eines ihrer »Typisch-Isabelle-Outfits«, wie Clary es formuliert hätte