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EINLEBENBEENDEN
Sie schlug die Augen auf. Es war Morgen, ein Morgen, den sie nicht wollte. Mit großem Widerwillen hob sie den Kopf und sah sich im Zimmer um. In der Kammer war es kalt. Vor Stunden schon war das Feuer erloschen, und die klamme Feuchtigkeit des ungewöhnlich kühlen Frühlings war unaufhaltsam hereingekrochen, während sie sich unter ihrer verschlissenen Decke verborgen und darauf gewartet hatte, dass ihr Leben weggehen würde. Aber das hatte es nicht getan. Das Leben war geblieben, um sie erneut und hinterrücks mit Kälte und Feuchtigkeit, mit Enttäuschung und Einsamkeit zu überfallen. Sie drückte sich das dünne Laken an die Brust, während ihr Blick zu den wohlgeordneten Papierstapeln und Pergamenten wanderte, mit denen sie sich in den letzten Wochen beschäftigt hatte. Da war es. Das Lebenswerk von Alise Finbok, alles auf einem Stapel. Übersetzungen antiker Texte, ihre eigenen Mutmaßungen, genaue Abschriften alter Dokumente in schwarzer Tinte, fehlende Worte darin mit Rot nach ihren Vermutungen eingefügt. Da ihr eigenes Leben keinerlei Ziel gehabt hatte, hatte sie sich in die Antike zurückgezogen und sich etwas auf ihr gelehrtes Wissen eingebildet. Sie wusste, wie die Uralten einst gelebt hatten, welchen Umgang sie mit den Drachen hatten. Sie kannte die Namen einstiger Uralter und Drachen, sie kannte ihre Sitten. Sie wusste so viel über eine Vergangenheit, die keine Bedeutung mehr hatte.
Uralte und Drachen waren in die Welt zurückgekehrt. Sie war Zeugin dieses Wunders geworden. Und sie würden sich die alte Stadt Kelsingra wieder zu eigen machen und dort leben. Die vielen Geheimnisse, die sie den Schriftrollen und schimmligen Wandteppichen hatte entreißen wollen, hatten nun keine Bedeutung mehr. Wären die neuen Uralten erst einmal in die Stadt eingezogen, brauchten sie nur den Gedächtnisstein dort zu berühren, um von ihrer Geschichte zu erfahren. All die Geheimnisse, von deren Entdeckung sie geträumt hatte, all die Rätsel, die sie nur zu gerne gelöst hätte, waren nun ohne ihr Zutun dahin. Sie war bedeutungslos.
Dass sie plötzlich trotzdem die Decke von sich warf und aufstand, überraschte sie selbst. Sofort wurde sie von Kälte eingehüllt. Sie ging zu ihren großen Reisetruhen, die sie in Bingstadt mit so viel Hoffnung gepackt hatte. Zu Beginn ihrer Reise waren sie vollgestopft gewesen, voller Kleider, wie sie sich für eine Dame auf Abenteuerfahrt schickten. Dicke Baumwollblusen mit nur ganz wenig Spitze, geschlitzte Röcke zum Wandern, Hüte mit Gesichtsnetzen gegen die Mücken und die Sonne, robuste Lederstiefel … von all dem blieben ihr kaum mehr als Erinnerungen. Während der mühseligen Reise waren die Stoffe zerschlissen, ihre Stiefel waren angestoßen und undicht, und die Schnürsenkel waren eine einzige Kette aus Knoten. Sie hatte keine andere Wahl gehabt, als ihre Sachen im sauren Flusswasser zu waschen, aber nun waren die Nähte aufgerissen und die Säume ausgefranst. Sie zog irgendwelche Kleider an, ohne sich Gedanken darüber zu machen, wie sie darin aussehen mochte. Es beachtete sie ohnehin niemand. Sie würde sich nie wieder Gedanken darum machen, wie sie aussah oder was andere Leute von ihr hielten.
Ein Uraltengewand, das Leftrin ihr geschenkt hatte, hing an einem Haken. Von all ihren Kleidungsstücken hatte dieses als einziges die leuchtenden Farben behalten und war fein und weich geblieben. Sie sehnte sich nach seiner Wärme, konnte sich aber nicht dazu durchringen, es anzuziehen. Rapskal hatte es überdeutlich gesagt: Sie war keine Uralte. Sie hatte kein Anrecht auf die Stadt Kelsingra, kein Anrecht auf irgendetwas, was mit den Uralten zu tun hatte.
Bitterkeit, Schmerz und Resignation angesichts der von Rapskal ausgesprochenen Tatsache zogen sich zu einem strammen, festen Knoten in ihrer Kehle zusammen. Sie starrte das Uraltengewand an, bis die leuchtenden Farben in d