|15|Einführung
Jedes Mal, wenn ich vor einer Gruppe werdender oder frischgebackener Eltern einen Vortrag über die frühkindliche Gehirnentwicklung hielt, machte ich einen Fehler. Ich ging davon aus, dass die Eltern eine schmackhafte Portion wissenschaftlicher Erkenntnisse über das Gehirn des Ungeborenen kredenzt haben wollten – ein bisschen Biologie der Neuralleiste hier, eine Prise Axon-Migration dort. Aber in der Fragerunde im Anschluss an jeden Vortrag wurden immer die gleichen Fragen gestellt. Die erste Frage, die eine hochschwangere Zuhörerin an einem regnerischen Abend in Seattle vorbrachte, lautete: „Was kann mein Baby lernen, solange es noch in meinem Bauch ist?“ Eine andere Frau wollte wissen: „Wie wird sich die Geburt unseres Kindes auf unsere Ehe auswirken?“ Ein Vater in spe preschte mit der dritten Frage vor: „Wie bringe ich mein Kind nach Harvard?“ Eine besorgte Mutter fragte: „Was kann ich tun, damit mein kleines Mädchen glücklich wird?“ Und eine Großmutter, die ihren Enkel großzog, weil ihre drogenabhängige Tochter nicht dazu in der Lage war, wollte wissen: „Wie mache ich aus meinem Enkelkind einenguten Menschen?“ Und eins ums andere Mal stellten erschöpfte Eltern geradezu flehentlich die Frage: „Wie bringen wir unser Baby dazu, nachts durchzuschlafen?“
So sehr ich mich auch bemühte, das Gespräch auf so esoterische Dinge wie die neuronale Differenzierung zu lenken, die Eltern kamen stets auf Varianten dieser sechs Fragen zurück. Schließlich wurde mir klar, was ich falsch machte: Die Eltern wollten keine abgehobenen Erklärungen, sondern Antworten auf bodenständige Fragen. Folglich wird sich dieses Buch auch nicht mit der Genregulation im sich entwickelnden Rhombenzephalon oder ähnlichen Dingen befassen; stattdessen orientiert es sich an den praktischen Fragen, die mir meine Zuhörer immer wieder stellen.
MitBrain Rules meine ich diejenigen Dinge, die wir mit Sicherheit über die Funktion des frühkindlichen Gehirns wissen. Jede dieser „Regeln“ wurde aus einem größeren „Brocken“ – der Verhaltenspsychologie, der Zellbiologie und der Molekularbiologie – herausgeklopft. Ich habe sie ausgewählt, weil sie frischgebackene Eltern bei der beängstigenden Aufgabe unterstützen können, sich um einen hilflosen kleinen Menschen zu kümmern.
|16|Natürlich verstehe ich das Bedürfnis nach Antworten. Wenn sich das erste Kind ankündigt, ist das ungefähr so, als bekäme man einen berauschenden Trank vorgesetzt, der zu gleichen Teilen aus Freude und Schrecken besteht; darauf folgen eimerweise Veränderungen, von denen einem kein Mensch je etwas erzählt hat. Ich weiß das aus eigener Erfahrung: Ich habe zwei Jungs, und beide kamen ohne Gebrauchsanleitung zur Welt und bescherten uns eine Menge verwirrender Fragen und eine tiefe Verunsicherung, wie wir uns verhalten sollten. Rasch begriff ich, dass das nicht alles war, was sie mitbrachten. Sie besaßen eine Anziehungskraft, die in mir eine stürmische Liebe und eine unerschütterliche Loyalität entfachte. Und sie waren irgendwie magnetisch: Ich konnte nicht anders, als ihre perfekten Fingernägel, ihre wachen Augen oder ihren dramatischen Haarschopf zu bewundern. Als mein zweiter Sohn geboren wurde, erkannte ich, dass man Liebe endlos aufteilen kann, ohne dass sie dabei weniger wird; man kann dasselbe Maß an Liebe für mehrere Kinder empfinden. Eltern sein ermöglicht es, sich zu vervielfältigen, indem man sich teilt.
Auch der Wissenschaftler in mir freute sich über die großartige Gelegenheit, die sich ihm bot: Dabei zuzusehen, wie sich das Gehirn eines Babys entwickelt, ist wie ein Logenplatz beim biologischen Urknall. Das Gehirn geht aus einer einzigen Zelle hervor – still und leise, wie ein Geheimnis. Innerhalb weniger Wochen werden mit atemberaubender Geschwindigkeit Nervenzellen produziert, und zwar 8000pro Sekunde. Und innerhalb weniger Monate ist das Gehirn auf dem Weg, zur ausgeklügeltsten Denkmaschine der Welt zu werden. Diese Mysterien rufen bei einem Anfängervater nicht nur Erstaunen und Liebe hervor; sie schüren auch Ängste und werfen Fragen auf.
Zu viele Mythen
Eltern brauchen Fakten, nicht nur Ratschläge, wie sie ihre Kinder am besten aufziehen. Leider sind solche Fakten in dem ständig wachsenden Berg von Erziehungsratgebern nur schwer zu finden. Ganz zu schweigen von den Blogs, den Foren und Podcasts, den Schwiegermüttern und all den Verwandten, die irgendwann einmal ein Kind hatten (oder auch nicht). Es gibt Unmengen von Informationen da draußen. Nur – für Eltern ist es schwierig zu entscheiden, was sie glauben sollen und was nicht.
Das Tolle an der Wissenschaft ist, dass sie weder Partei ergreift noch Gefangene macht. Wenn man erst einmal herausgefunden hat, welchen Studien man trauen kann, verblassen die Mythen, und das große Ganze kommt zum Vorschein. Um|17|mein Ve