Lauter reizende Damen
Carolin erwachte vom krächzenden Ruf eines Vogels. Sie blieb noch einen Augenblick liegen und genoss die Wärme des Federbetts und den Duft von Holz, der ihr heute Morgen noch intensiver erschien. Der Vogel krächzte schon wieder, als wollte er sie aus dem Bett scheuchen. Sie schlug die Decke zurück und stellte die nackten Füße auf den Fußboden. Im Zimmer war es empfindlich kalt. Sie hatte das Fenster über Nacht einen Spalt weit geöffnet gelassen und nicht bedacht, dass sie auf tausend Metern Höhe mit anderen Temperaturen zu rechnen hatte. Fröstelnd lief sie zum Fenster.
Der Vogel flog vom Balkongeländer auf. Sie hatte aufgrund des Schreis eine Krähe erwartet, aber er war braun und weiß, kaum größer als eine Amsel. Erneut ließ er sein heiseres Krächzen ertönen, bevor er in einem weiten Bogen zu einem Nadelbaum im Garten segelte. Sie schloss das Fenster mit Nachdruck, drehte den Heizkörper hoch und ging ins Bad.
Nach einer heißen Dusche waren ihre Füße wieder warm. Nackt, wie sie war, ging sie an den Kleiderschrank, den sie am Vorabend noch eingeräumt hatte, bevor sie wie ein Stein ins Bett gefallen war. Sie entschied sich für ihr übliches Joboutfit, dunkle Jeans und helle Bluse, heute kombiniert mit einem seriös wirkenden Leinensakko – schließlich stand ihr gleich der offizielle Antrittsbesuch im Gemeindeamt bevor. Dunkelgraue Wimperntusche betonte das Blau ihrer Augen, und ihr Lippenstift war so tomatenrot wie das Tuch, das sie sich passend zur Farbe der Sofas in der Bibliothek um den Hals schlang. Zuletzt kontrollierte sie ihr Aussehen im Spiegel auf der Innenseite der Schranktür, fand es zufriedenstellend und fuhr sich ein letztes Mal mit den Fingern durch die Haare, die sich noch feucht in alle Richtungen kringelten.