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Später sollte sie sich noch an kleinste Einzelheiten, an einzelne Bewegungen und Handgriffe erinnern, nicht aber an deren genaue Reihenfolge. Wohl sah sie sich noch in dem etwas diffusen Sonnenlicht um zehn Uhr morgens den Türklopfer betätigen; da war sie noch eine alte Frau gewesen, die nicht mehr konnte, die um Gnade bettelte, einem streunenden Hund vergleichbar, der in Erwartung von Schlägen oder einem Löffel Suppe unentschlossen an der Schwelle eines Bauernhauses stehen bleibt, und vielleicht hatte sie sich noch leerer, noch schwindliger gefühlt, als sie dick und atemlos ihrer kleinen dunkelhaarigen Schwägerin die Treppe hinauf Gott weiß wohin folgte.
Aber warum hatte sie anschließend Louise das Glas Wasser, das Alice gebracht hatte, ins Gesicht geschüttet, anstatt es ihr zu trinken zu geben? Das war ein Reflex gewesen; irgendetwas in dem zuckenden Gesicht von Louise, die die Wand mit ihren Fingernägeln bearbeitete, hatte ihn ausgelöst.
Und die andere, die Schwiegertochter, die unter ihrem schwarzen Kleid nackt zu sein schien – und es bestimmt auch war – und die sich bis zu dieser Stunde weder gekämmt noch gewaschen hatte, hielt sich die Augen mit der linken Hand zu und streckte ihr mit der rechten Hand ein Küchenmesser entgegen. Sobald Jeanne es an sich genommen hatte, rannte Alice zur Treppe und rief:
»Ich kann keinen Toten sehen! Das halte ich nicht aus!«
»Rufen Sie wenigstens einen Arzt.«
»Doktor Bernard?«
»Irgendeinen Arzt. Einen, der schnell hier sein kann.«
Alice war offenbar sofort ans Telefon gestürzt, denn in der ersten Etage hörte man den Säugling weiter unentwegt schreien, was darauf schließen ließ, dass seine Mutter an ihm vorbei direkt ins Erdgeschoss gerannt war. Nachdem sie, wie Jeanne später erfuhr, vom Esszimmer aus telefoniert hatte, hielt es sie nicht länger im Haus, und sie war auf die Straße hinausgelaufen, um dort auf den Arzt zu warten.
Nach dem Guss mit dem kalten Wasser hatte Louises Gesicht einen Ausdruck von Fassungslosigkeit angenommen, der fast komisch wirkte. Einen kurzen Augenblick war Hass in ihren Augen aufgeglommen wie bei einem kleinen Mädchen, das Schläge bekommen hat. Sie hatte den Raum nicht sofort verlassen, war eine Zeit lang gegen die Wand gepresst stehen geblieben. Erst als Roberts Leiche ausgestreckt auf dem Boden lag und Jeanne sich umdrehte, um etwas zu sagen, stellte sie fest, dass sie mit dem Toten allein war.
Sie war ganz ruhig gewesen, hatte nicht das Gefühl gehabt, denken, überlegen, Entscheidungen treffen zu müssen. Sie hatte gehandelt, als habe man ihr vorgeschrieben, was sie zu tun habe. In einer Ecke des Dachbodens hatte hinter einem Stoß Bücher ein alter verrosteter Spiegel mit schwarz-goldenem Rahmen gelegen. Als sie ihn hervorholen wollte, musste sie feststellen, dass er viel schwerer war als vermutet. Mit Müh und Not hatte sie ihn zu ihrem Bruder hinübergezerrt, dabei einen Stapel Bücher umgestoßen und ihn dann schräg vor die violetten Lippen von Robert gehalten.
Unmittelbar darauf waren Schritte im Treppenhaus zu hören gewesen, schnelle, gleichmäßige, beruhigende Männerschritte. Eine Stimme sagte:
»Ich finde den Weg schon. Kümmern Sie sich um da