: Georges Simenon
: Die Beichte Roman
: Atlantik Verlag
: 9783455014150
: Die großen Romane
: 1
: CHF 9.00
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: Gegenwartsliteratur (ab 1945)
: German
: 192
: Wasserzeichen
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB
 Hinter den Kulissen der Ehe meiner Eltern  Als der sechzehnjährige André Bar mit seiner Freundin Francine durch Nizza bummelt, wird er zufällig Zeuge, wie seine Mutter ein Stundenhotel verlässt. Auch Madame Bar hat ihren Sohn gesehen. Hat sie eine Affäre? Von einem Moment auf den anderen gerät die Ehe aus den Fugen. Die Eltern versuchen, den entsetzten Sohn zu beschwichtigen - und ziehen ihn damit bloß immer tiefer in die Geschichte ihrer Ehe. Dabei will André einfach nur seine Ruhe haben. Neu übersetzt von Sophia Marzolff

Georges Simenon, geboren am 13. Februar 1903 im belgischen Lüttich, gestorben am 4. September 1989 in Lausanne, gilt als der »meistgelesene, meistübersetzte, meistverfilmte, in einem Wort: der erfolgreichste Schriftsteller des 20. Jahrhunderts« (Die Zeit). Seine erstaunliche literarische Produktivität (75 Maigret-Romane, 117 weitere Romane und mehr als 150 Erzählungen), viele Ortswechsel und unzählige Frauen bestimmten sein Leben. Rastlos bereiste er die Welt, immer auf der Suche nach dem, »was bei allen Menschen gleich ist«. Das macht seine Bücher bis heute so zeitlos.

2


Es war etwa halb elf, als er die Schritte seines Vaters auf der Treppe hörte. Er befand sich gerade in seiner vertrauten Bauchlage auf dem Boden, mit dem Kinn in der Armbeuge. Er hatte fast die ganze erste Philippika wiedergelesen und vor ein paar Minuten, nachdem er das Buch zugeklappt hatte, eine Schallplatte aufgelegt, auf der ihm die dumpfen Klänge des Schlagzeugs gefielen. Während er zuhörte, blätterte er in einem Comicheft.

Sein Vater tauchte nicht häufig bei ihm auf, aber manchmal, wenn nur sie beide im Haus waren, kam es vor, dass Lucien Bar langsam die Treppe in den zweiten Stock hinaufstieg.

Er klopfte nicht an, verweilte aber immer, vielleicht aus Diskretion, noch einen Moment vor der Tür, und dann redeten sie in der Regel nur wenig. Es ergab sich nie ein längeres Gespräch; nur ein paar belanglose Sätze, zwischen denen lange Pausen lagen.

An diesem Abend hatte André zunächst den Impuls, sein Comicheft zuzuschlagen und schnell wieder den Demosthenes zur Hand zu nehmen, denn er sagte sich, wenn sein Vater ihn beim Lernen vorfand, würde er sich wieder zurückziehen. Doch dann verharrte er lieber regungslos, wartete etwas nervös ab, und als die Tür aufging, streckte er den Arm nach dem Plattenspieler aus, um die Musik anzuhalten.

»Störe ich dich?«

»Ich hab schon vor einer Weile mit dem Lernen aufgehört.«

Sein Vater, der genauso verlegen war wie er, zögerte noch, sich in den alten Sessel zu setzen, von dem André den roten Samt abgezogen hatte, sodass nur noch blasses Leinen zu sehen war.

»Hattest du einen schönen Tag?«

»Er war in Ordnung.«

»Und dein Ausflug nach Nizza?«

André fürchtete eine ganz bestimmte Frage, so als könnte man ihm den Vorfall in der Rue Voltaire am Gesicht ablesen, und tatsächlich folgte die behutsame, fast scheu hervorgebrachte Erkundigung:

»Irgendjemand Bekanntes getroffen?«

Inzwischen hatte Lucien Bar sich in den Sessel gesetzt, wo er eine seiner schlanken Zigarren rauchte, die er sich für den Abend aufhob, denn er konnte tagsüber ja nicht seine Patienten einnebeln. Auch im Wohnzimmer rauchte er nicht, weil seine Frau Zigarrengeruch verabscheute.

»Ich habe Francine getroffen.«

»Francine Boisdieu?«

»Ja. Sie kam gerade aus einer Schule in der Rue Paradis, einer Schule für Buchhaltung und Fremdsprachen.«

»Ihr Vater hat mir davon erzählt.«

War er mit einem Hintergedanken hochgekommen? Beschäftigte ihn etwas anderes als die Tochter seines Freundes? Jedenfalls schien er erleichtert zu sein, dass sich das Gespräch vorerst auf neutralem Terrain bewegte. Einen Moment saß er nur schweigend da, mit gedankenverlorenem Blick.

»Abgesehen von dem Abendessen, zu dem wir sie diesen Winter eingeladen haben, und ihrer Gegeneinladung vor drei Wochen habe ich Francine das letzte Mal gesehen, als sie erst wenige Monate alt war …«

Wieder hing er schweigend seinen Gedanken nach.

»Dabei waren ihr Vater und ich früher enge Freunde. Er ist der Sohn eines Landarztes, der in der Nièvre oder im Massi